Wir hatten das Abendessen beendet. Mir gegenüber saß mein Freund, der Bankier, ein großer Händler und namhafter Schieber; er rauchte wie einer, der nicht denkt. Die Unterhaltung war allmählich ins Stocken geraten und erstarrte schließlich ganz. Ich versuchte auf gut Glück, sie wieder in Gang zu bringen und bediente mich dabei der erstbesten Idee, die mir durch den Kopf ging. Lächelnd wandte ich mich ihm zu:
"Richtig! Mir wurde erzählt, Sie seien früher Anarchist gewesen."
"Ich bin es nicht nur gewesen, ich bin es noch immer. In dieser Hinsicht habe ich mich nicht geändert. Ich bin Anarchist."
"Was Sie nicht sagen! Sie und Anarchist? Und wieso wären Sie Anarchist? ... Sie verstehen das Wort vielleicht anders..."
"Anders im gewöhnlichen Sinn? Nein, keineswegs. Ich gebrauche es ganz im gewöhnlichen Sinn."
"Sie wollen also sagen, Sie seien Anarchist im selben Sinne wie diese Typen von den Arbeiterorganisationen? Es gäbe also keinen Unterschied zwischen Ihnen und diesen Bombenlegern und Gewerkschaftstypen ?"
"Daß ich nicht das Leben der Bombenleger und Gewerkschaftstypen führe, stimmt. Doch deren Leben spielt sich jenseits des Anarchismus, jenseits ihrer Ideale ab. Meines nicht. In mir - jawohl, in mir, dem Bankier, dem großen Händler und Schieber, wenn Sie es so hören wollen - in mir vereinigen sich beide, Theorie und Praxis des Anarchismus, auf's genaueste. Sie haben mich mit diesen Idioten von Bombenlegern, mit denen von der Gewerkschaft verglichen, um zu beweisen, ich sei anders als sie. Das bin ich auch, nur ist der Unterschied folgender: die da (jawohl, die da, nicht ich) sind nur in der Theorie Anarchisten, ich bin es in der Theorie und in der Praxis. Die da sind Anarchisten und Dummköpfe, ich bin Anarchist und gescheit. Darum mein Guter, bin ich der wahre Anarchist!"
- Fernando Pessoa, Ein anarchistischer Bankier (1922)
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Die deutsche Übersetzung von Reinold Werner erschien 1986 als Quartheft 146 im Berliner Verlag Klaus Wagenbach.