Mittwoch, 30. Dezember 2009

Tuer le temps



In diesem Jahr kam's zahlenmäßig ziemlich dicke. Erst ging die globale Wirtschaft den Bach runter, dann war plötzlich das Weltklima futsch. Und nun droht schon die nächste Hiobsbotschaft: Das glückliche Gallien legt sich in Sachen Zeitrechnung quer. So steht es jedenfalls in einem nonkonformistischen Manifest, das eben hier hereingeflattert ist:

„Da sich die internationalen Staatsorgane taub stellen, schreitet die „Oppositionsfront gegen das Neue Jahr – Nationales Organisationskomitee“ (FONACON) ein weiteres Mal zur Aktion. Seit 2006 fordern die Mitglieder von FONACON die Abschaffung des Neuen Jahres - mit der Engelsgeduld von Leuten, die wissen, daß sie recht haben. Trotz eines großen Medienechos und einer weltweit stetig wachsenden Mobilisierung dringt diese Botschaft bis heute bei den Verantwortlichen nicht durch. Schlimmer noch, je mehr die internationale Unterstützung für uns wächst, desto weniger scheinen die Regierenden geneigt, unseren legitimen Forderungen Rechnung zu tragen. Im vorigen Jahr hatten wir uns, im Vertrauen auf den Kandidaten Barack Obama, mit dessen Unterstützung wir selbstverständlich rechneten, an einer Atlantik-Überquerung auf Schusters Rappen versucht … Ohne Erfolg.

Für dieses Jahresende 2009 sah unser Aktionsprogramm eine große Kundgebung vor dem New Yorker Sitz der Vereinten Nationen vor. Leider haben die Geheimdienste verschiedener Regierungs-Organisationen ihre Verbindungen spielen lassen, um uns inoffiziell zu signalisieren, daß wir wegen einer Quarantäne infolge der Schweinegrippe nicht in die Vereinigten Staaten einreisen könnten, um hier unseren gerechten Zorn kundzutun. Wir nehmen das zur Kenntnis.

Da es aber nicht in Frage kommt, daß wir die Flinte jetzt ins Korn werfen und den schändlichen Drohungen des Traditionsvereins von Weihnachtsbaum-Lobbyisten, Luftschlangen-Industriellen, [Pyrotechnikern,] Kalender-Fabrikanten und Schweizer Uhrmachern beugen, die aus der vergänglichen Zeit ihren Honig saugen, und wir andererseits unseren Sympathisanten auch den Härtetest der Quarantäne [bzw. frei nach Derrida: eines vierzigjährigen Volkskriegs] ersparen möchten, verkünden wir feierlich, daß wir, als Antwort auf die diversen Pressionen, unsere Militanten zu Kundgebungen vor allen Freiheitsstatuen in Frankreich aufrufen (unseres Wissens gibt es davon sechzehn, möglicherweise aber auch mehr – vielleicht wäre das eine Gelegenheit, das hiesige National-Inventar der historischen Denkmäler einmal zu vervollständigen), um uns dortselbst in Quarantäne zu begeben, im Angesicht jener Freiheitsstatue, die einst auch die Einwanderer bei ihrer unfreiwilligen Isolation in Ellis Island, wo sie auf ihren Eintritt in die USA warteten, vor Augen hatten. Wir warten dort auf die Abschaffung des Neuen Jahres, auf das Nicht-Eintreten von 2010.“

Bravo, la France !! Das ist zwar nicht unbedingt schon der Weckruf des gallischen Hahns, zumal der ja erstmal nur Europa wachkrähen soll (MEW 6, 10 und öfter), aber zumindest eine originelle Antwort auf Sarkozy, Schlämmer, Sonneborn & Co..

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Zur epistemologischen Vertiefung:

Daniel S. Milo, Trahir le temps (Histoire), Les Belles Lettres, Paris 1991

Daniel S. Milo, Alain Boureau (Hrsg.), Alter Histoire. Essais d'histoire expérimentale, Les Belles Lettres, Paris 1991 (der geniale Hauptaufsatz Milos aus diesem Band, "Pour une histoire expérimentale ou le gai savoir", erschien auch in deutscher Übersetzung, und zwar in Jürgen Links Zeitschrift "kultuRRevolution", Nr. 24, 1991, sowie in einem Reader des Wilhelm Fink Verlags,"Zeit der Ereignisse - Ende der Geschichte ?", hrsg. v. Friedrich Balke u.a., München 1992).

Donnerstag, 24. Dezember 2009

Das Genuine

Und er fand dort eine Höhle und führte sie hinein und ließ seine Söhne bei ihr stehen und ging hinaus, um eine hebräische Hebamme in der Gegend von Bethlehem zu suchen. Ich aber, Joseph, ging umher und ging doch nicht umher. Und ich blickte hinauf zum Himmelsgewölbe, und ich sah es stillstehen, und ich blickte in die Luft und sah die Luft erstarrt und die Vögel des Himmels unbeweglich bleiben. Und ich blickte auf die Erde, und ich sah eine Schüssel stehen und Arbeiter darum gelagert, und ihre Hände in der Schüssel. Aber die Kauenden kauten nicht, und die etwas aufhoben, hoben nichts auf, und die etwas zum Munde führten, führten nichts zum Munde, sondern alle hatten das Angesicht nach oben gerichtet. Und siehe, Schafe wurden umhergetrieben und kamen doch nicht vorwärts, sondern standen still; und der Hirte erhob die Hand, sie mit dem Stecken zu schlagen, aber seine Hand blieb oben stehen. Und ich blickte auf den Lauf des Flusses, und ich sah die Mäuler der Böcke darüberliegen und nicht trinken. Dann aber ging alles auf einmal wieder seinen Gang.



Protevangelium des Jakobus, Kap. 18, nicht vor 150 n. Chr.

(= W. Schneemelcher ed., Neutestamentliche Apokryphen, Bd. I: Evangelien, 6. Auflage, 1990, S. 345f. ; Übers. O. Cullmann)

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Sobald ein Mensch kommt, der etwas Primitives mit sich bringt, so daß er also nicht sagt: Man muß die Welt nehmen wie sie ist ... , sondern sagt: Wie die Welt auch ist, ich bleibe bei einer Ursprünglichkeit, die ich nicht nach dem Gutbefinden der Welt zu verändern gedenke: im selben Augenblick, als dieses Wort gehört wird, geht im ganzen Dasein eine Verwandlung vor sich. Wie im Märchen - wenn das Wort gesagt wird, sich das seit hundert Jahren verzauberte Schloß öffnet und alles Leben wird: so wird das Dasein lauter Aufmerksamkeit. Die Engel bekommen zu tun und sehen neugierig zu, was daraus werden wird, denn dies beschäftigt sie. Auf der anderen Seite: finstere unheimliche Dämonen, die lange untätig dagesessen und an ihren Fingern genagt haben, springen auf und recken die Glieder, denn, sagen sie, hier gibt es etwa für uns.

Siegfried Kracauer, den Kierkegaard zitierenden Kafka zitierend

(= S. Kracauer, Geschichte - Vor den letzten Dingen (1966), übers. v. K. Witte, 1971, S. 246)

Montag, 7. Dezember 2009

Schmutz sells

Avec la souillure nous entrons au règne de la Terreur.

(Paul Ricoeur, Finitude et Culpabilité, 31)


Dem Kapitalismus laufen in Scharen die Gläubigen davon. Und nicht nur die Gläubigen und das Fußvolk, sondern vor allem auch die Gläubiger, die Shareholder und die Aktionäre. Man nehme nur die Ereignisse der letzten Tage: In Hamburg hat Großmeister Piëch die letzten VW-Volksaktionäre vergrault, in Frankfurt platzt der milliardenschwere, von drei Großbanken eingefädelte Hochtief-Börsengang (die einzige nennenswerte deutsche Neuemission dieses Jahr, abgesehen von einem sino-teutonischen Mobilfunk-Emissiönchen), in Amerika krachte letzte Woche bereits das 130. Kreditinstitut dieses Jahr zusammen, und mit Dubai kollabiert gleich ein ganzer Finanzplatz (und wird nun womöglich, damit der Turmbau zu Babel noch ein bißchen weiter gehen kann, vom benachbarten Abu Dhabi übernommen).

Bei den journalistischen Hofschranzen des Kapitals aber ist nun Pfeifen im Walde angesagt. Was habt ihr nur, orakeln sie, das Schlimmste ist doch überstanden, die Börsen und die Hedgefonds boomen doch wieder, und auch den Investment-Banken geht’s doch wieder prächtig, jedenfalls was den Risikoappetit, die Stimmung, die Gewinne und Boni in diesen Geldkathedralen betrifft. Und das wird dann regelmäßig mit knallharten Fakten aus dem Leben der High Net Worth Individuals, genannt Fundamentaldaten, untermauert. „Händler und Investmentbanker, die eine Zweitwohnung in der Reichenenklave Palm Beach besitzen“, berichtet die FAZ, „fliegen jetzt wieder öfter mit dem Privatjet nach Florida“. Sehr beruhigend.

Und Dubai ?

Nun, Dubai ist für die Nutzwert-Journaille eine schöne Gelegenheit, den Finanzmoral-Apostel herauszukehren und den dummen Anleger-Schafen mal richtig die Leviten zu lesen. „Der Dubai-Schock jedenfalls hat Anleger wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Es kann nur gesund sein, wenn den Anlegern immer wieder die weiterhin hohen Risiken auf den Märkten bewußt gemacht werden“, predigt ein geborener Hiller von Gaertringen, Spezialist für Banken und Weinbau, der FAZ-Gemeinde zum Wochenende (FAZ, 5. 12. 2009, Seite 23). Und sein Welt-Kollege bläst in die gleiche Moralin-Posaune: „Die ehemalige Boom-Stadt ist ein mahnendes Beispiel für die Unwägbarkeiten von Nischenmärkten und noch nicht etablierten Kapitalmärkten.“ Mehr wollen, können oder dürfen sie nicht sagen. Das elfte Gebot für den „homo investor“ spart sich man auf, bis Felix Arabia endgültig in Schutt und Asche liegt: Du sollst dem Mammon in Nischenmärkten keine 1000 Meter hohen Minarette errichten !

Bei Josef „Joe“ Ackermann, aber der ist ja auch keine Hofschranze des Kapitals, sondern das Kapital himself (bzw. seine Charaktermaske), hat das jüngst doch etwas dramatischer geklungen. Freund Joe ließ sich, von seiner Busenfreundin Merkel ins Kanzleramt eingeladen, um eine dicke Lippe zu riskieren, nicht lange bitten und sprach von „einigen Zeitbomben“, die noch auf den Finanzmärkten tickten. Welche das genau sind, das sagte er natürlich nicht (er erwähnte neben Dubai nur einen möglichen Staatsbankrott Griechenlands), denn die Deutsche Bank will natürlich auch mit diesen Zeitbomben noch gutes Geld verdienen, und läßt sich bei ihren negativen Wetten auf das nächste Finanzdesaster nur ungern in die Karten schauen.

Die Suche nach Vertragspartnern und Gegenparteien für solche Derivate-Wetten aufs Unglück der anderen (d. h. der Vertragspartner, der Gegenparteien und den Rest der Welt) gestaltet sich freilich zunehmend schwieriger. Vorübergehend ist der Staat eingesprungen, hat sich noch einmal breitschlagen lassen und den Banken ihren ganzen toxischen Finanz-Schrott (praktisch ohne Gegenleistung, vor allem ohne Mitsprache- und Kontrollrechte) abgekauft, aber im Prinzip gilt: Die Partygäste haben genug, das Casino leert sich. Denn nun gehen, so scheint es, auch jene jüngst zum neoliberalen Evangelium bekehrten Gläubigen von der Fahne, denen man als Spätkonvertiten eine ganz besondere Passion für den Casino-Kapitalismus nachsagte. Einige internationale Investmentbanken seien „die größten Verbrecher“, ließ sich jüngst ein hoher chinesischer Funktionär vernehmen, der hunderte von Staatsunternehmen überwacht, die im Derivate-Geschäft mit Goldman Sachs, Morgan Stanley und anderen auf die Nase gefallen waren. Die Unternehmen (z.B. Fluggesellschaften) hatten den Banken Terminpapiere (z. B. auf Kraftstoff) abgekauft, wahrscheinlich im guten Glauben, sich hiermit gegen Preisveränderungen bei Kerosin abzusichern, doch das Gegenteil kam heraus: Es liefen Verluste von umgerechnet 1,1 Milliarden Euro an. Der Verkauf solcher Terminpapiere habe „betrügerischen Charakter“, schrieb der Funktionär nun in der Zeitung „Xuexi Shibao“, denn sie seien viel zu komplex und in der Beurteilung ihrer Risiken kaum zu überschauen.

Ähnliches mag sich, im stillen Stadtkämmerlein, auch mancher deutscher Stadtkämmerer schon gedacht haben, ein Berufsstand, der in den vergangenen Dekade von Finanzkonzernen mit bizarrsten Sale-and-lease-back-Konstruktionen („abgesichert“ durch 10000-seitige Verträge) gleich reihenweise über den Tisch gezogen wurde. Vom Großmütterlein, dem die Kreissparkasse Lehman-Zertifikate oder Manfred Krug Telekom-Volksaktien angedreht hat, ganz zu schweigen …

Wer, außer dem Staat, dessen Personal von der Hoch- und Konzernfinanz per Lobbyismus und Parteispenden gefügig gemacht oder (wie in der Bush- und Obama-Administration, aber auch Hans Eichels wichtigster Steuerberater, Heribert Zitzelsberger, inzwischen verstorben, kam aus einem DAX-Konzern) gleich direkt ausgeliehen wurde, kauft jetzt eigentlich noch den ganzen Schrott ? Auch der seit Frühjahr laufende Börsenboom ist doch gleich doppelt auf Sand (d. h. auf Staatsschulden und fiktives Kapital) gebaut; er basiert einerseits auf Kostensenkungen der Unternehmen (d. h. auf Entlassungen, auf Vernichtung von Humankapital und externalisierten Kosten, die nun via Kurzarbeitergeld, Hartz IV etc. der Staat trägt), andererseits aber auf einer klassischen Spekulationsblase, entfacht durch jene Zentralbank- und Staatsgelder, die man im Zuge der Bankenrettungspläne in den Markt gepumpt hat. Von dieser Blase profitieren einzig die Banken selbst bzw. jene institutionellen Investoren, an welche diese Gelder weitergereicht wurden.

Die Privatanleger aber, das geben die Experten zu, haben an der jüngsten Aktienhausse kaum teilgenommen. Und das ist, was oft übersehen wird, keine kurzfristige Entwicklung, sondern das geht jetzt (zumindest in Deutschland) schon seit Jahren so, genau genommen seit dem Jahr 2000, als der mit großem Tamtam aus der Taufe gehobene Neue Markt zusammenkrachte (und dann Juni 2003 verschämt geschlossen wurde). Seither ist die Zahl der Aktien- und Fondsbesitzer in Deutschland (die vom Deutschen Aktieninstitut jährlich per Umfrage ermittelt wird) dauerhaft im Sinkflug begriffen. Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 6,2 Millionen Aktienbesitzer, im Jahr 2008 waren es noch 3,5 Millionen, und auch die Kurve der Fondsbesitzer weist stabil nach unten (wenn auch deutlich flacher) – und das trotz Riester-Propaganda-Zirkus und ständigem Werbe-Trommeln für eine kapitalgedeckte Altersvorsorge. Die Zahl der Zertifikate-Besitzer (also der Käufer komplexer Finanzderivate wie Optionen oder Optionsscheine) ist ohnehin vergleichsweise gering: sie lag 2006, also vor der Finanzkrise, bei 480.000, es gab jedoch schon damals allein den Börsen in Frankfurt und Stuttgart mehr als 200.000 Typen, Produktvarianten und Einzelausgaben dieser Derivate-Papiere, wobei bis heute jeden Tag hunderte von neuen Titeln aufgelegt werden. Mit anderen Worten, es kann durchaus sein, daß es in Deutschland inzwischen schon mehr Zockerpapiere als Zocker gibt, denn wenn sich ein Produkt mal (wie die Lehman-Zertifikate) gründlich blamiert hat, basteln die Künstler von der Finanz-Verpackungsindustrie gleich wieder ein halbes Dutzend neuer „Best-Unlimited-Turbozertifikate“, „Put-down-and-out-Optionsscheine“ und wie sie alle heißen. Die einzige Bedingung dieser Produkte ist, daß sie monströs klingen und daß sie außer ein paar Raketenforschern in den Bankentürmen keiner mehr versteht: Nur so läßt sich der Betrieb im großen Wettbüro des Finanzkapitalismus aufrechterhalten, und nur so können die Finanzinstitute weiterhin ihren Reibach machen.

Womit kann man den „homo investor“, das vielfach gebrannte Kind, nach den zweieinhalb Finanzdesastern der letzten Dekade jetzt noch locken ? Das ist die tägliche Frage in Produktmarketing-Abteilungen der Finanzindustrie, und auch in den Finanz- und Börsenteilen der Tageszeitungen, ihrem verlängerten Arm, denn die hier beschäftigte Intelligentsia agiert schon lange nicht mehr autonom, auf eigene Rechnung oder mit eigenem Verstand, sondern eher wie eine journalistische Drücker-Bande im großen finanzkapitalistischen Strukturvertrieb.

Womit kann man diesen Privat- und Kleinanleger also noch locken ? Man kann ihn, so lautet die neueste posttraumatisch-finanzbehavioristisch aufgeklärte Antwort, am einfachsten locken, indem man an seine niedersten Instinkte, seine „animal spirits“, und gleichzeitig – denn ohne das geht’s dann doch nicht ganz - an sein gutes Finanz-Gewissen, d.h. an sein Krämer- und Weltbürger-Seelchen, appelliert. Die Finanzredaktion der FAZ, der Konkurrenz immer eine Nasenlänge voraus, war sich denn auch nicht zu schade, vergangene Woche eine vierspaltige Finanzprodukt-Offerte mit folgender sensationeller Schlagzeile aufzumachen:

"Privatanleger können vom Handel mit Schmutz profitieren"

(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 12. 2009, Seite 21)

Ja, ist das denn die Möglichkeit, mag sich der geschockte Zeitungsleser (nennen wir ihn mal „homo sapiens“, denn zum „homo investor“ soll er ja erst noch oder wieder herangebildet werden) zunächst gefragt haben: Handel mit Schmutz, also mit dem Gegenteil von Wert, mit etwas, das jeder loswerden und keiner haben will, wo gibt’s denn so was ? Nein, das gibt’s tatsächlich, wir leben ja schließlich im Kapitalismus, da ist alles möglich, und der gute Mann mußte nur ein bißchen weiterlesen, da erfuhr er dann die ganze tolle Wahrheit:

"Die Besitzer oder Käufer spezieller Verschmutzungs-Wertpapiere können damit bares Geld verdienen."

Der Grund dafür, so erläuterte ihm dann der schlaue Redakteur, sei denn auch ganz einfach. Die EU-Regierungen hätten allen Fabrikanlagen „eine bestimmte Verschmutzungsmenge im Jahr“ zugeteilt, und diese „Verschmutzungsrechte“ seien anschließend an speziellen Börsen in London und Leipzig, die unsere wohlmeinenden Regierungen ja inzwischen auch aus dem Schmutz gehoben haben, eben auf den Heller und Pfennig genau notiert worden:

"Denn den Preis eines Verschmutzungsrechtes kann man dort genauso ablesen wie den Preis einer Volkswagen-Aktie an der deutschen Börse."

Die Banken waren nun natürlich auch nicht faul, sie hätten, so lesen wir weiter, für ihre saubere Kundschaft spezielle Schmutzpapiere kreiert und zertifiziert, die der Privatanleger dort, z.B. bei der Hypovereinsbank, der Commerzbank oder der Dresdner Bank, käuflich erwerben könne. Eines dieser Zertifikate koste jeweils so viel wie eine Tonne Schmutz, und die liege momentan an Leipziger Börse bei 13,50 Euro. Und als kleiner Service werden dem FAZ-Leser dann gleich auch noch die entsprechenden Schmutzpapier-Kennnummern mitgeteilt. Die Botschaft ist eindeutig: Kleiner Mann, ran an den Schmutz !

Kein Zweifel, mit diesem schmutzwertjournalistischen Scoop hatte die FAZ-Finanzredaktion die Latte ziemlich hoch gelegt. Die Konkurrenz mußte nachziehen, und sie tat es gleich am nächsten Tag, als nämlich die „Financial Times Deutschland“, unter dem Titel „Die Emissionare“ die Erfolgstory zweier Jung-Entrepreneure präsentierte, zweier „Dirty minds“, die in der Schmutz-Branche ihre Lebensaufgabe gefunden haben und „Mittelständlern (dabei helfen), ihre Verschmutzungszertifikate optimal zu verwalten“. Auch der „Spiegel“ ließ sich nicht lumpen, machte es aber dann erfreulicherweise kritischer und zeigt auf (Nr. 50, 7. 12. 2009, Seite 90-92), inwiefern in diesem ganzen schmutzigen Geschäft auch hübsche Chancen zur Umsatzsteueroptimierung liegen. (Die Story stammt denn auch vom "Wirtschaftsjournalisten des Jahres". Wir gratulieren !)

Wie geht’s jetzt weiter ? Was kommt noch ? Welche komischen Überraschungen hat der durchgeknallte Kapitalismus als nächstes in der Pipeline ? Nun, da fällt die Antwort nicht schwer: In dieser schmutzigen Richtung dürfte es wohl weiter gehen. Die seltsamen Hirne, die sich „Verschmutzungsrechte“, „Schmutz-Zertifikate“ und „Abwrackprämien“ ausgedacht haben, werden nicht ruhen, bis sie schließlich auch den ersten indexbasierten „Balanced Dirty Rubbish All Shares Global Fund“, angereichert mit einem Querschnitt der weltweit schönsten Schmutzbörsen, oder den „Transatlantic Best Select Media Bullshit Mixed Equity Fund“, aus einem Portfolio von Springer AG, Mediaset und Fox News-Anteilsscheinen, kreiert haben – sozusagen als Antwort auf die „Islamic Finance“, die ja nur mit ganz blüten- und astreinen Produkten handelt.

Und dann wächst die Blase wieder, sie wächst und wächst, und irgendwann platzt sie.

Was für eine Blase ?

Na, der globale Geld-Grün-Komplex, die große Schmutz-Blase.

Da heißt es jetzt frühzeitig einsteigen und dann rechtzeitig wieder aussteigen – das ist das ganze Kunststück.

Das ist der Börsen-Weisheit letzter Stuß.

Irgendwann, wenn keine bessere Lösung dazwischenkommt, wird man diesen Kapitalismus totschlagen wie einen tollen Hund.

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Zitat: Paul Ricoeur wird zitiert nach Christian Enzensberger, "Größerer Versuch über den Schmutz I", in: Kursbuch 10 (Oktober 1967) Seite 87

Sonntag, 6. Dezember 2009

First anniversary of the murder of Aléxandros Grigorópoulos

Zum Gedenken an Alfred Hrdlička


*27. Februar 1928, Wien - † 5. Dezember 2009, Wien

Würdigungen des Bildhauers, Graphikers und Antifaschisten Alfred Hrdlička stehen bei indymedia und redblog.

Das für mich schönste Porträt Hrdličkas stammt von Michael Mathias Prechtl und zeigt den am rechten Ellenbogen blutbefleckt-bandagierten Bildhauer mit Hammer und Meißel arbeitend an einer Büste Rodins, welcher seinerseits mit Hammer und Meißel an einer Skulptur Donatellos arbeitet („Kurze Geschichte der abendländischen Bildhauerei seit der Renaissance“, aus „Prechtls Welttheater“ ?)

Foto: Christian Brandstätter Verlag, Wien, für AEIOU


Donnerstag, 3. Dezember 2009

Nation Building

Who are you (1/4) Baba O'Riley (2/4) Behind Blue Eyes (3/4)

The Concert for New York City was a benefit concert, featuring many famous musicians, that took place on October 20, 2001, at Madison Square Garden in New York City, in response to the September 11, 2001 attacks.

The Who sind der Sänger Roger Daltrey, Zak Starkey am Schlagzeug (hier eine Gedenkminute für den unnachahmlichen Keith Moon), an der Gitarre Pete Townshend und am Kontrabaß Sir Henryk Broder (verkleidet als John Entwistle).






Mittwoch, 2. Dezember 2009

Heini von Pierer, der edle Ritter, treibt es erneut als Schmiergeld-Sodomiter


Der heutige Mittwoch war erstmal kein schlechter Tag für die deutsche Großkopfeten-Wirtschaft.

Am runden KanzlerInnen-Tisch wurde dem Mittelstand zum x-ten Mal das Blaue vom Himmel herunter versprochen, und im Südosten hat man zwei Finanz-Leichen mittlerer Größe wieder in den Keller zurückverfrachtet, allenfalls die gute ehrbare Kaufmanns-Moral hat etwas gelitten, weil zwei Wirtschaftsführer unbedingt beweisen mußten, daß sie ebenbürtige Weicheier sind.

Aber das wußten die journalistisch Eingeweihten bereits vorher.

Insofern nichts wirklich grundstürzend Neues.

Mit dem nachmittäglichen Tee-Kränzchen bei der Kanzlerin braucht man sich nicht lange aufzuhalten: Madame Merkel schickte Wirtschaftsminister Brüderle und den am rechten Zeige- und Zählfinger rundum bandagierten Finanzminister Schäuble am Abend vor die Löwen der Bundespressekonferenz, um das Ergebnis des Round-Table-Meetings herauszuposaunen. Woraus man schon schließen kann, was tatsächlich herauskam: Deutlich weniger als nichts, keine neue Regeln für die Banken, nicht einmal neue Staatsschulden wurden verkündet. Vorsorglich hatten die EU-Knickerbocker ja schon gegen Mittag in Brüssel auch mal wieder ein neues Defizit-Verfahren gegen die Bundesrepublik annonciert, und mit diesen Knausern will man sich’s in Berlin natürlich nicht verscherzen. Also Schwamm drüber…

Eine etwas nähere Betrachtung verdienen nun aber doch die beiden Finanz-Leichen mittlerer Größe. Denn hier wurde nach monatelangen Verhandlungen zwischen Rechtsanwälten, Leistungsträgern, Privatdetektiven, Frühinvaliden, Dealmakern und anderen Halbweltgestalten in beiden Fällen etwas erzielt, was wichtigtuerische Experten nicht anstehen, einen „überraschenden Durchbruch“ zu nennen.

So kam es zu einem überraschenden Durchbruch im mysteriösen Diebstahl des Sarkophags mitsamt der Leiche des Milliardärs Friedrich Karl Flick, deren Entführer ursprünglich sechs Millionen Euro Lösegeld für die Zurückgabe des erlauchten Kadavers gefordert hatten, und dann gleich noch zu einem ebensolchen in der milliardenschweren Siemens-Schmiergeld-Affäre, wo sich zwei hochrangige Wirtschaftsführer, Siemens-Aufsichtsratschef Gerhard Cromme und sein Vorgänger Heinrich von Pierer, für schlappe sechs Millionen Euro gegenseitig den Schneid abzukaufen suchten.

Beides gelang – wenn auch nur zu mehr oder weniger ermäßigten Preisen – am Ende beinahe vollständig.

Im ersten Fall von Rechts- , Finanz- und Leichenhandel war der Rabatt besonders stark, es fielen neben Anzahlungen der Flick-Familie in Höhe von 200.000 Euro (gezahlt in zwei Raten) bislang nur private Transportkosten von etwa 740 Euro für die Überstellung der Leiche von Österreich nach Ungarn an, was vier Hilfsarbeiter irgendwie bewerkstelligt haben müssen, wie die Polizei inzwischen herausgefunden hat, von denen also jeder 185 Euro erhielt (ob das die Auslagen und Arbeitskosten wirklich abgedeckt hat ?), die vier Herren (drei davon rumänische Landsleute) sind übrigens flüchtig, und die Kosten für den Rücktransport der Milliardärs-Mumie übernahm natürlich Österreich-Ungarn, wohingegen jetzt der mutmaßliche Drahtzieher der Translatio Frederici, ein Budapester Rechtsanwalt, hinter ungarischen Gardinen sitzt. Recht geschieht dem Rendite-Terrorist, das nächste Mal, da sind wir uns sicher, bezahlt der Schuft seine Leute ordentlich !

Beim zweiten Deal des Tages, der finalen Schadensabwicklung der sogenannten Siemens-Korruptions-Affäre im Konzern-Aufsichtsrat, ging’s scheinbar etwas vornehmer zu als bei der österreichisch-ungarischen Totenverschiebung. Hier einigte sich eine, wenn sie denn vollzählig versammelt war, gemischt 20-köpfige Herren- und Damenrunde (die holde Weiblichkeit repräsentiert durch zwei Gewerkschaftsfrauen und eine promovierte Business Woman) heute morgen im Grundsatz auf folgenden Deal: Neun Alte Siemens-Herren zahlen alle jeweils ein kleines Sümmchen an ihren früheren Arbeitgeber, den sie zuvor mit ihrem Tun und Lassen an den Rand des finanziell-moralischen Ruins gebracht hatten, und werden von ihrer Ex-Firma deshalb im Gegenzug nicht vor ein ordentliches Gericht zitiert.

Das ist doch was, oder ?

Man könnte sagen, das Ganze ist ein hübsches Ablaßzahlen-, Schweigegeld- und Stillhalte-Agreement, die Vereinbarung einer Reihe von Zahlungen, denen beim Vertragspartner (der Siemens AG) in keinem Fall irgendeine reale positive Gegenleistung, sondern hier nur die Verpflichtung zur Unterlassung einer solchen entspricht.

Mit anderen Worten, es handelt sich erneut um eine Schmiergeld-Operation, um eine Transaktion, deren Zweck genauso dubios ist, wie es der ganze Siemens-Korruptions-Zirkus schon bisher war, also jene 1, 3 Milliarden Euro „zweifelhafter Zahlungen“, mit denen von Pierer & Konsorten ihren Konzern zwischen 2000 und 2006 überhaupt erst in die Scheiße geritten haben (sieht man einmal davon ab, daß die Herren in diesem Zeitraum auch ihr Handy-Geschäft, so wie vorher die Halbleiter-Sparte, versiebt haben). Und erneut lautet die einzige greifbare Begründung: Wir müssen das so machen, denn es ist notwendig für’s Geschäft.

Das auszusprechen überließ man freilich dem IG-Metall-Vorsitzenden Berthold Huber, der auch im Siemens-Aufsichtsrat sitzt, für irgendetwas müssen solche Arbeiterführer ja gut sein. „Es ist gut für das Geschäft, daß diese Auseinandersetzungen beendet sind“, gab der wackere Mann heute im Anschluß an die Aufsichtsratssitzung der „Süddeutschen Zeitung“ zu Protokoll. „Siemens soll positive Schlagzeilen machen.“

Schauen wir uns nun die einzelnen, heute beschlossenen Ablaßzahlungen näher an. Ex-Boss Heinrich von Pierer, der alte Schlaumeier, konnte seinen Beitrag auf 5 Millionen Euro herunterhandeln (zahlbar in Raten) – der derzeitige Siemens-Aufsichtsratvorsitzende Gerhard Cromme hatte ursprünglich sechs Millionen Euro gefordert (und damit monatelang die halbe deutsche Wirtschaftspresse kirre gemacht). Auch Ex-Personalchef Jürgen Radomski bekam mit 3 Millionen Euro einen veritablen Gnaden-Rabatt – hier hatte man zunächst 4 Millionen Euro verlangt. Bei den anderen gab’s gab offenbar keinen Preisnachlaß: Klaus Kleinfeld, heute Chef des US-Aluminiumkonzerns Alcoa und Vorgänger von Pierer als Vorstandsvorsitzender, soll zwei Millionen Euro zahlen. Von Johannes Feldmayer (Ex-Europa-Chef) und von Uriel J. Sharef (Ex-Amerika-Chef) werden jeweils 4 Millionen Euro verlangt, während der Ex-Aufsichtsratsvorsitzende Karl-Hermann Baumann mit 1 Million Euro zur Kasse gebeten wird. Hinzu kommen drei weitere Alte Herren mit kleineren Gaben für den Siemens-Klingelbeutel – ingesamt belaufen sich diese neun Vergleichsvereinbarungen auf 19,5 Millionen Euro. Nur den Josef "Joe" Ackermann, der bereits zu Siemens-Schmiergeld-Hochzeiten im Konzern-Aufsichtsrat saß (als stellvertretender Vorsitzender, d. h. als zweiter Mann hinter K.-H. Baumann) und heute dort noch immer sitzt (inzwischen als 2. stellvertretender Vorsitzender), hat man wieder mal verschont. Das hat er toll gedrechselt, der Mr. Deutsche Bank ...

So macht Konzern-Kapitalismus Spaß: Ein Verkäuferin verliert wegen einem verspeisten Wurstbrötchen im Wert von 2 Euro 50 ihren Job, aber die Siemens-Bande, die mindestens 3,8 Milliarden Euro in den Sand gesetzt hat (1,3 Milliarden Schmiergeld + 2,5 Milliarden Rechtskosten und Steuernachzahlungen), kommt mit einer Stillhaltegebühr von 19,5 Millionen Euro davon, das heißt deutlich weniger als 1 Prozent der Schadensumme, und muß nicht einmal vor den Kadi – und das erledigten alles hochbezahlte Rechtsanwälte für sie.

Von Pierer (und vier seiner Kumpane) erwartet bestenfalls noch ein Ordnungswidrigkeitsverfahren bei der Münchner Staatsanwaltschaft, und nicht einmal das scheint sicher zu sein. Die Strafverfolgungsbehörden sind nämlich angesichts systemischer Konzern-Korruption, die darin besteht, daß niedere Chargen und Vollstrecker ihren Wirtschaftsführern willig voraus- und entgegenarbeiten und das Drecksgeschäft für sie erledigen (andernfalls würden sie gefeuert), heillos überfordert und unterbesetzt; denn diese Herren und Damen Staatsanwälte wissen, daß sie gegen die gewieften vielköpfigen Anwaltsteams der Gegenseite in neun von zehn Fällen doch den Kürzeren ziehen müssen; deshalb versuchen sie erst gar nicht, dem Buchstaben und Geist der Gesetze Taten folgen zu lassen, und ducken sich ebenfalls lieber weg.

Freilich, ganz und völlig hat er sich dann am Ende doch nicht weggeduckt, der von Pierer. Eine Journalistin des "Tagesspiegel" hat den Mr. Siemens gestern doch tatsächlich per Telefon erreicht. Sie wollte natürlich wissen, ob er irgendetwas zu dem ganzen peinlichen Kuhhandel zu sagen habe. Von Pierer hatte. „Kein Kommentar“, erklärte ihr der edle Ritter am Handy. Er sei gerade geschäftlich in Thailand unterwegs. Und der Lärm im Hintergrund habe nichts mit ihm zu tun.

Das war, gemessen am sonstigen Niveau des hiesigen Wirtschaftsjournalismus und des Genres Top-Entscheider-Interview, dann doch eine fast erschöpfende Auskunft. Corinna Visser, gelobt sei dein Name !
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Foto: Deutsche Presse-Agentur

Dienstag, 1. Dezember 2009

Amused, or not amused: that is the question



Gefunden auf den Websites Attac Deutschland & Angry Mermaid Award.

Selbst wenn der Kopenhagener Klima-Gipfel ins Wasser fallen sollte, hat er doch jetzt schon sein Gutes gehabt und jedenfalls die Kreativwirtschaft zu musischen Höchstleistungen in Sachen Corporate Social Responsability beflügelt.

Es fehlt jetzt nur noch der abendfüllende Spielfilm, in dem Meerfrollein, Dame Gaia und Al Gore zum acting in concert antreten und sich nicht nur mit den vier Elementen & Kontinenten, sondern auch mit den Verdammten dieser Erde sowie Hugo Chávez’ V. Internationale verbünden, um den 7 Lastern + 4 apokalyptischen Reitern des Kapitalismus in einer großen Psychomachie endgültig den Garaus zu machen.

Montag, 30. November 2009

Nudo pectore. L'argument corporel (8)


IL FIORE DI NOVEMBRE

(Mondadori Electa, 2009, Italiano-Inglese, 131 pagine)

Fabio Novembres charmant-bizarres "graphic tale" wurde dieses Jahr als Installation auf der Triennale in Mailand gezeigt. Nicht nur der Titel dürfte von den "Fioretti" des Franziskus von Assisi beeinflußt sein, die einst in einer schönen Ausgabe ebenfalls bei Mondadori erschienen:

I Fioretti di San Francesco, a cura di Angelo Sodini, con prefazione di Alfredo Galletti, A. Mondadori, Milano 1925, 423 pagine.

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Freitag, 27. November 2009

Studio Guttenberg



In Berlin und Umgebung geht’s derzeit drunter und drüber.

Zum Beispiel gestern abend. Weil der Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg mal schnell ein paar Artikel in die BILD-Redaktion rüberbringen mußte, die er 2001 in der „Welt“ platziert hatte, konnte er nicht wie geplant an der Verleihung der Bambi-Medienpreise teilnehmen.

Macht nix, denn seine entzückende Ehefrau Stephanie vertrat ihn souverän und outete sich bei dieser Gelegenheit beiläufig gleich mal als Anarchafeministin.

"Denken Sie sich ihren Verteidigungsminister in diesem Abendkleid" (oder so ähnlich) sagte sie vor dem SPIEGEL, als sie ihren Bambi der Uni Hoeneß rüberreichte.

Willkommen im Club.

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Musik: "Clubbing" von Manu Katché (die Studio-Version ist auf der CD "Playground")

Montag, 23. November 2009

On Attacking Numbers

ALFREDO M. BONANNO

THE INSURRECTIONAL PROJECT

An anarchist insurrectional project requires a method that reflects the world we desire and the reality of the world we seek to destroy. Acting in small groups based on affinity fits both of these requirements. Power in the present world no longer has a real center, but spreads itself throughout the social terrain. Acting in small groups allows projects of attack to spread across the terrain as well. But more significantly, this method brings one’s aim into one’s method—revolt itself becomes a different way of conceiving relations. Anarchists always talk of refusing vanguardism—but such a refusal means refusing evangelism, the quantitative myth that seeks to win converts to an ideology of anarchism. Acting in small groups to attack the state and capital puts anarchy into practice as the self-organization of one’s own projects, in relations based on affinity—real knowledge of and trust in each other—rather than adherence to a belief system. Furthermore, this sort of action, liberated from the quantitative, does not wait until “conditions are right”, until one is guaranteed a large following or until one is certain of the results—it is action without measure. Thus, it carries within it the world we desire—a world of relations without measure.

Once one has decided not to put up with being ruled or exploited and therefore to attack the social order based on domination and exploitation, the question of how to go about this arises. Since those of us who rise up in rebellion cannot let themselves be organized by others without falling under a new form of domination, we need to develop the capacity to organize our own projects and activities—to put the elements together that are necessary for acting projectually in a coherent manner.

Thus, organization, as I’m using the term here, means bringing together the means and relations that allow us to act for ourselves in the world. This starts with the decision to act, the decision that our thirst to have all of our life as our own requires us to fight against the state, capital and all of the structures and institutions through which they maintain control over the conditions of our existence. Such a decision puts one in the position of needing to develop the specific tools that make intelligent action possible. First a thorough analysis of the present conditions of exploitation is necessary. Based on this analysis, we choose specific objectives to aim for and means for achieving these objectives based upon our desires and the ideas that move us. These means, these tools for action must first and foremost include ways of making our objectives, desires and ideas known to others in order to find affinities, others with whom we can create projects of action. Thus, we look to create occasions for encounters and discussion in which similarities and differences are clarified, in which the refusal of false unities allow the real affinities—real knowledge of whether and how we can work together—can develop. These tools allow the projectuality of individuals in revolt to become a force in movement, an element propelling toward the insurrectional break. Since affinity is the basis for the relations we are aiming to use in action, informality is essential—only here can its forms be expressions of real needs and desires.

So our desire to create insurrection moves us to reject all formal organization—all structures based on membership and the attempt to synthesize the various struggles under one formal leadership—that of the organization. These structures for synthesis share some common traits. They have a formal theoretical basis, a series of doctrine to which all members are expected to adhere. Because such groups are seeking numbers this basis tends to be on the lowest common denominator—a set of simplistic statements with no depth of analysis and with a dogmatic tendency that militates against deep analysis. They also have a formal practical orientation—a specific mode of acting by which the group as a whole determines what they will do. The necessity such groups feel to synthesize the various struggles under their direction—to the extent they succeed—leads to a formalization and ritualization of the struggles undermining creativity and imagination and turning the various struggles into mere tools for the promotion of the organization. From all of this it becomes clear, that whatever claims such an organization may make about its desire for insurrection and revolution, in fact its first aim is to increase membership.

It is important to realize that this problem can exist even when no structures have been created. When anarchism promotes itself in an evangelistic manner, it is clear that a formal theoretical basis has imposed its rigidity on the fluidity of ideas necessary for developing real analyses. In such a situation, the practical orientation—the modes of action also become formalized—one need only look at the ritualized confrontations by which so many anarchists strive to get their message across. The only purpose that this apparently informal formalization serves is to try to convince the various people in struggle that they should call themselves anarchists—that is, to synthesize the struggles under the leadership of the black flag. In other words to gain numbers of members for this formal non-organization. Dealing with the media to explain who anarchists are seems to enforce this way of interacting with the other exploited in struggle, because it reinforces the separation of anarchists from the rest of those exploited by this society and leaves the impression that the anarchists have some special understanding of things that makes them the de facto vanguard of the revolution.

So for the purpose of creating our insurrectional project we want to organize informally: without a formal theoretical basis so that ideas and analyses can be developed fluidly in a way that allows to understand the present and act against it and without a formal practical orientation so that we can act with an intelligent projectual spontaneity and creativity. A significant aspect of this informal organization would be a network of like-minded people. This network would base itself on a reciprocal knowledge of each other which requires honest, straightforward discussions of ideas, analyses and aims. Complete agreement would not be necessary, but a real understanding of differences would. The aim of this network would not be the recruitment of members—it would not be a membership organization—but rather developing methods for intervening in various struggles in an insurrectional manner, and coordinating such intervention. The basis for participation would be affinity—meaning the capacity to act together. This capacity stems from knowing where to find each other and studying and analyzing the social situation together in order to move to action together. Since there is no formal organization to join, this network would only grow on the basis of real affinity of ideas and practice. This informal network would consist of the tools we develop for the discussion of social analyses and the methods for intervening in struggles that we create.

This network is basically a way for individuals and small groups to coordinate their struggles. The real point of action is the affinity group. An affinity group is an informal, temporary group based on affinity—that is real knowledge of each other—that comes together to accomplish a specific aim. Affinity develops through a deepening knowledge of each other: knowledge of how the other thinks about social problems and of the methods of intervention they consider appropriate. Real affinity cannot be based on a lowest common denominator, but must include a real understanding of differences as well as similarities between those involved, because it is in the knowledge of our difference that we can discover haw we can really act together. Since the affinity group comes together for a specific circumscribed aim, it is a temporary formation—one that ceases to exist once the aim is accomplished. Thus it remains informal, without membership.

With this informal basis, once we recognize that our own freedom will remain impoverished as long as the masters continue to control the conditions under which most people exist, depriving them of the ability to freely determine their own lives, we recognize that our own liberation depends on intervention in the struggles of the exploited classes as a whole. Our involvement is not one of evangelism—the propagandistic method would place us on the same level as political movements, and we are not politicians or activists, but individuals who want our lives back and therefore take action for ourselves with others. Thus, we do not propose any specific anarchist organization for the exploited to join, nor a doctrine to put faith in. Rather we seek to link our specific struggle as anarchists to that of the rest of the exploited by encouraging self-organization, self-determination, the refusal of delegation and of any sort of negotiation, accommodation or compromise with power, and a practice based on direct action and the necessity of attack against the structures of power and control. The point is to encourage and participate in specific attacks against specific aspects of the state, capital and the various structures and apparati of control.

Since our purpose is to struggle against our own exploitation with other exploited people, certainly with the aim of projecting toward insurrection, there can be no guaranteeing of any results—with no organization striving to gain members, we can’t look for an increase in numbers. There is no way to know the end. But though we have no guarantees, no certainty of accomplishing our aim, success is not the primary reason for our struggle. The primary reason is that not to act is the guaranteed defeat of an empty and meaningless existence. To act to take our life back is to already regain it on the terrain of struggle, to already become the creator of one’s own existence, even if in constant battle with a monstrous order determined to crush us.

Why we are insurrectionalist anarchists:

* Because we are struggling along with the excluded to alleviate and ultimately abolish the conditions of exploitation imposed by the included.

* Because we consider it possible to contribute to the development of struggles that are appearing spontaneously everywhere, turning them into mass insurrections, that is to say, actual revolutions.

* Because we want to destroy the capitalist order of the world which, thanks to computer science restructuring has become technologically useful to no one but the managers of class domination.

* Because we are for the immediate, destructive attack against the structures, individuals and organizations of Capital and the State.

* Because we constructively criticize all those who are in situations of comprise with power in their belief that the revolutionary struggle is impossible at the present time.

* Because rather than wait, we have decided to proceed to action, even if the time is not ripe.

* Because we want to put an end to this state of affairs right away rather than wait until conditions make its transformation possible.

These are the reasons why we are anarchists, revolutionaries and insurrectionalists.

Published by The Batko Group & Elephant Editions




About Alfredo M. Bonanno


Alfredo Maria Bonanno (born 1937) is an insurrectionary anarchist from Italy who wrote essays such as "Armed Joy" (for which he was imprisoned for 18 months by the Italian government), "The Anarchist Tension" and others. On October 4, 2009, Bonanno was arrested with Greek anarchist Christos Stratigopolous in Trikala, central Greece on suspicion of having carried out an armed robbery in a local bank. Alfredo and Christos are being held at TZAMALA 27, 33100 AMFISSA, GREECE.



Music


Genesis, "Watcher of the Skies" (or the "Foxtrot" version) and "Robbery, Assault and Battery" (check out "A Trick of the Tail" or the Live album "Seconds Out", sorry, but there is no good Youtube stuff)

Samstag, 21. November 2009

Eine Kindheitserinnerung des Frank Zappa

The Making of Saint Alfonzo's Pancake Breakfast

Zappa plays Zappa (= Zappa junior)

Und hier nochmal der Maestro himself und in voller Pracht beinahe ...

"Montana" erschien erstmals auf der LP "Over-nite Sensation" (1973), "Saint Alfonzo's Pancake Breakfast" und "Don't Eat the Yellow Snow" auf "Apostrophe(')" (1974) und "The Black Page" auf "Zappa in New York"(1978).

UPDATE:

Unter den Zappatisten ist umstritten, zu Ehren welches Heiligen eigentlich jene Pfannkuchen -- oder waren’s vielleicht Dampfnudeln ? -- serviert wurden, deren Zubereitung der kleine oder schon etwas größere Zappa einst durch Margarinen-Diebstahl in der Phantasie oder Realität naschkatzenhaft sabotieren wollte (hier liegt doch wohl die klassische katholische Jugendsünde bzw. womöglich sogar eine freudsche Deckerinnerung vor, siehe Augustinus, Confessiones I, 19 u. II, 4 sowie "Das Vokabular der Psychoanalyse" von Laplanche/Pontalis).

Nach Zappas eigenen Angaben soll es sich bei Saint Alfonzo um den Kirchenpatron der portugiesisch-stämmigen Stint-Fischer im Columbia-River-Delta (am Pazifik, nördlich von Portland, im US-Bundesstaat Washington) gehandelt haben, aber hat der große Schalksnarr seine Fan-Gemeinde da nicht eher mutwillig an der Nase herumgeführt ?

Und selbst wenn sich Häuptling Lästerzunge hier einmal keinen Jux hat machen wollen, gibt es jedenfalls diverse Alfonse im katholischen Heiligen- und Seligenkalender, die grundsätzlich als Fishermen’s Friend parochialtheologisch und religionssoziologisch in Frage kommen würden. Es gibt allerdings nur einen, der es – qua Ordensgründung, d. h. Schaffung einer persönlichen Nachlaß- und Memorialverwaltung - auch bereits zu weltweiter Prominenz und Präsenz gebracht hat: Alfons Maria de Liguori (1696-1787), Patron der Beichtväter und Moraltheologen, der übrigens auch geistliche Lieder komponierte (Fest 2. August). Wir halten ihn zwar für einen durchaus vielversprechenden zappatistischen Kandidaten, möchten andererseits aber auch nicht unbedingt, grundsätzlich und von vorneherein die Hand für ihn ins Feuer legen, die Hagiologie ist ja noch eine recht junge Wissenschaft, vor allem ist die Heiligenlandschaft allgemein ein eher unübersichtliches, schwer zugängliches Terrain. Daß sowohl Zappa als auch Liguori einen italienischen Hintergrund haben, hat gewiß Gewicht, sollte aber dann auch nicht überbewertet werden.

Zweitens gibt es einen gewissen spanischen Edelmystiker und Augustiner-Eremiten namens Alfons von Orozco (1500-1591), der als Hofprediger und Ratgeber Karls V. und Philipps II. agierte (Fest 19. September).

Den kann man, wie's aussieht, wohl zunächst einmal vernachlässigen, der scheint uns doch eher weniger zu Frankie Boy zu passen. (Aber auch dafür möchten wir uns natürlich in diesem frühen Stadium der Recherche die Feuer- und Wasserprobe sowie andere Ordalien doch lieber ersparen, zumal wir wohl so schnell auch nicht nach Rom kommen werden, um die Akten des Heiligsprechungsprozesses näher einzusehen. Die sind übrigens noch nahezu druckfrisch, die endgültige Kanonisation dieses Herrn erfolgte erst 2002. Wahrscheinlich sagt man sich im Vatikan, bei den spanischen Granden brennt eh so schnell nichts an, und läßt sich deshalb gern ein bißchen Zeit mit der Erhebung aus den Archiven).

Zuguterletzt - und da wird's dann wieder interessant, das wäre schon eher mal die eine oder andere kleine Stippvisite bzw. Pilgerreise wert - lassen sich auch mindestens vier spanische Märtyrer-Missionare, zwei Jesuiten, zwei Dominikaner, auftreiben, die mit dem Alfons-Namen ausgestattet sind: Alfons (Alonso) Rodriguez (1598-1628) wurde beim Aufbau des berühmt-berüchtigten Jesuitenstaates im Gebiet der Guarani-Indianer, im Dreiländereck zwischen Brasilien, Paraguay und Argentinien, getötet (Fest 15. November); sein Ordensbruder Alfons Pacecho (1551- 1583) starb in Cuncolim, in der südlichen Goa-Region, an der Westküste Indiens (Fest 27. Juli); der Dominikaner Alfons von Mena (1568-1622) erlitt in Nagasaki den Feuertod (Fest 10. September); Alfons de Navarette (1571-1617) schließlich wurde im japanischen Tokushima, im Nordosten der Insel Shikoku, geköpft (Fest 10. September).

Die beideren letzteren starben also nicht nur an verschiedenen Orten und in verschiedenen Jahren, sondern auch an verschiedenen Tagen (Mena am 10. 9., Navarette am 1. 6.), haben aber - laut "Lexikon für Theologie und Kirche", 2. Auflage, 1957, Bd. I, 330ff, woraus die meisten unserer Angaben auch entnommen sind - am selben Tag ihr Fest (10. September).

Hier könnte der Druckfehlerteufel zugeschlagen haben, muß es aber nicht: Im kirchlichen Heiligen- und Seligenhimmel geht’s mitunter ziemlich drunter und drüber, das heißt mit kuriosen Einsparmaßnahmen, Metamorphosen, Verschiebungsaktionen, Kondensationen, Fusionen und anderen reichlich bizarren Kreationen ist hier jederzeit zu rechnen.

Wie übrigens auch beim Zappatismus, und natürlich erst recht in allen anderen Mythologien.


Mittwoch, 11. November 2009

Jakob Moneta zum 95. Geburtstag

Teil 2 - Teil 3 - Teil 4

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JAKOB MONETA

"MEHR GEWALT FÜR DIE OHNMÄCHTIGEN"

(geschrieben 1978)

1.

"Blazowa liegt zwischen Krakau und Lemberg; westlich des Flusses San, der die Polen von den Ukrainern trennt. In Ostgalizien heißen sie Ruthenen. Als ich vier Jahre alt wurde, am 11. November 1918, ist die Republik Polen gegründet worden. Josef Pilsudski ließ sich zum provisorischen Staatsoberhaupt ausrufen. Er war einmal Mitbegründer und Führer der polnischen Sozialistischen Partei gewesen. In Vilna gehörte er eine Zeitlang der gleichen illegalen Gruppe an wie Leo Jogiches, Kampfgenosse von Rosa Luxemburg, der wie sie von der deutschen Konterrevolution ermordet wurde. 1926 kam Marschall Pilsudski durch einen Staatsstreich zur Macht und errichtete ein autoritäres Regime. Die Wiedervereinigung von Galizien, das unter österreichischer Verwaltung, und von Kongreß-Polen, das unter russischer Verwaltung stand, und von Preußisch-Polen, die Befreiung ihres Landes unter Pilsudski, feierten die Polen in meiner Geburtsstadt Blazowa -- und nicht nur dort -- mit einem Judenpogrom.

Dicht zusammengedrängt saßen Juden in einem Zimmer, Männer, Frauen und Kinder. Die Fenster hatten sie mit Matratzen verstellt, damit kein Licht nach außen drang. Bewaffnete drangen in den Raum, schleppten einzelne hinaus, verprügelten sie, tasteten sie roh nach Geld ab. Meine Mutter wurde hinausgezerrt. Mein Vater wollte ihr helfen. Er erhielt einen Kolbenschlag, der ihm das Trommelfell zerschlug. Ich sah, wie meine Mutter sich an den Türpfosten klammerte, hörte ihren Hilferuf: "Gewalt!". Der Bewaffnete, der sie mit Füßen trat, war ein polnischer Schulkamerad von ihr.

Der von polnischen Nationalisten genährte Judenhaß konnte sich nicht überall an Wehrlosen entladen. Dort, wo der "Bund", die stärkste organisierte Kraft im jüdischen Proletariat seine bewaffneten Kampftruppen gebildet hatte, holten sich die Pogromisten meist blutige Köpfe. Gegenwehr leisteten nicht nur Juden, sondern auch klassenbewußte Arbeiter jeder Nationalität. Für sie war der Antisemitismus eine gefährliche Propagandawaffe des Klassenfeindes. Man mußte ihn bekämpfen. Mit allen Mitteln.

Meinen Vater nannte man in Blazowa den "Deutschen". Er war von Frankfurt am Main gekommen und hatte in dem kleinen galizischen Textilstädtchen seine Frau gefunden. Nach dem Pogrom erstattete er Anzeige gegen die Rädelsführer. Sie drohten ihm Rache an. Daraufhin kehrte er nach Deutschland zurück. So kam ich 1919 nach Köln. Mit fünf Jahren wurde ich eingeschult. Schon mit drei Jahren hatte man mir im "Cheder", einer Art Religionsschule, das hebräische Alphabet beigebracht. In Köln ging ich vormittags zur Schule und nachmittags ins "Cheder", wo die Bibel in hebräisch und später der Talmud in aramäisch gelehrt wurde. Die Lehrer waren meist verkrachte Händler. Einer hatte stets eine lange Hundepeitsche, mit der er jeden erwischte, der unbotmäßig war oder falsche Antworten gab.

Wenn wir aus dem Cheder herauskamen, stand uns dann meist der eigentliche Kampf bevor. Draußen wurden wir bereits von einer jungen Bande erwartet, die sich mit HEP-HEP-Geschrei auf die Judenjungen stürzte. Wir mußten lernen, entweder schneller zu laufen als sie oder aber uns zu wehren. Aus dem Milieu der Cheder-Schüler gingen eine Reihe bekannter Amateurboxer hervor. Die Selbstverteidigung hatte zu ihrer sportlichen Ausbildung beigetragen.

HEP ist eine Abkürzung für "Hierosilima est perdita" - Jerusalem ist verloren. Ich begann von diesem verlorenen Jerusalem zu träumen. Eine jüdische Legende sagt, daß immer um Mitternacht ein Schakal über den verwüsteten Platz in Jerusalem läuft, auf dem die Römer im Jahre 70 nach Christi Geburt den Tempel zerstörten. Wenn es gelingt, diesen Schakal zu fangen, dann ersteht das alte jüdische Reich in seiner ganzen Herrlichkeit wieder auf. Was lag näher als daß ich, fast 1900 Jahre nach der Tempelzerstörung, diesen Schakal fangen würde. Die praktische Vorbereitung begann ich mit meinem Eintritt in eine zionistische Jugendgruppe.

Aber noch lebten auch die Zionisten nicht in Palästina. Die deutsche Arbeiterbewegung, damals die mächtigste der kapitalistischen Welt, zog auch die zionistische jüdische Jugend in ihren Bann.

Neun Millionen Stimmen hatte die fast eine Million Mitglieder starke SPD in den Reichstagswahlen 1924 erhalten und zog mit 152 Abgeordneten ins Parlament ein. Die KPD eroberte 54 Sitze, die NSDAP -- die Nazis -- nur 12. In Preußen hatten die Sozialdemokraten mit 229 von 450 Sitzen die absolute Mehrheit errungen. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) hatte 4,7 Millionen Mitglieder, der Arbeiter-Turn- und Sportbund 770 000, der Arbeiter-Radfahrbund "Solidarität" 220 000. Es gab einen Arbeiter-Athletenbund, einen Schachbund, Samariterbund und sogar einen Schützenbund. Die Arbeiterbewegung schuf eine Gegengesellschaft im kapitalistischen Staat.

Als der Sozialdemokrat Hermann Müller die neue Reichsregierung bildete, erklärte sein Innenminister Karl Severing, die neue Regierung habe die Absicht, vier Jahre Ferien zu machen. Ferien von Regierungskrisen, Programmentwürfen und Richtlinienberatung. In den Ferien würde man vier Jahre praktische Arbeit zum Aufbau der Republik leisten.

Der Abglanz von all dem fiel auch auf uns, die lernende, die lesende, die arbeitende jüdische Jugend. Wir wurden meist Sozialisten. Nicht immer durch Karl Marx, obwohl uns die wuchtige Sprache des Kommunistischen Manifestes mitriß. Leonhard Franks Der Mensch ist gut weckte unseren Haß gegen den Krieg. Hitler ließ ihn dieses Buches wegen ausbürgern. Upton Sinclairs Der Sumpf schärfte unser soziales Gewissen. Sein Boston, wo er den Justizmord an Sacco und Vanzetti schildert, und Henri Barbusses Tatsachen wühlten uns auf gegen die Klassenjustiz.

Im Jahre 1929 setzte die hereinbrechende Wirtschaftskrise der "praktischen Arbeit zum Aufbau der Republik" durch die Sozialdemokraten ein rasches Ende. Die Zahl der Erwerbslosen erreichte zwei Millionen, ein Jahr später drei Millionen. Bis 1933 sollte sie auf sechs Millionen steigen. Dazu kamen Millionen Kurzarbeiter. Die Landwirte erzielten für ihre Produkte in der Krise geringere Preise. Das Handwerk und die freien Berufe gerieten in den Strudel der Krise. Bestechungsskandale erschütterten zudem die politische Glaubwürdigkeit der SPD. In den Reichstagswahlen vom September 1930 verloren die Sozialdemokraten dennoch nur eine halbe Million Stimmen; die Stimmenzahl der KPD stieg sogar von 3 ¼ auf 4 ½ Millionen. Entscheidend aber war, daß die Nazis von 800 000 auf 6,5 Millionen anstiegen und 107 Mandate eroberten. Von vier Millionen Neuwählern waren drei Millionen zu Hitler gegangen, 2 ½ Millionen hatte er von anderen Rechtsparteien gewonnen.

Die wachsende politische Unruhe in der SPD wurde mit Disziplinierungsmaßnahmen und Ausschlüssen beantwortet. Im Oktober 1931 gründeten die ausgeschlossenen Reichstags-Abgeordneten Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP). Ihre Jugendorganisation, der "Sozialistische Jugendverband" (SJV), zog einen großen Teil der sozialdemokratischen Jugend herüber. Ich trat zusammen mit anderen Mitgliedern der zionistisch-sozialistischen Jugend in den SJV ein und setzte so meinen Fuß auf die Straße, die mich zum Internationalismus führte.

Zum ersten Mal kam ich in Verbindung mit jungen, idealistischen, kampfentschlossenen, revolutionären deutschen Jugendlichen. Dies genau in dem Augenblick, wo der Sieg der Nazis die deutsche Bourgeoisie vor dem Sozialismus retten sollte.

Auf den Straßen Kölns kam es fast täglich zu blutigen Zusammenstößen. Von Motorrädern aus schossen Nazis in eine Gruppe diskutierender Arbeiter. Saalschlachten wurden ausgetragen. In der Elsässerstraße, einer roten Hochburg von Köln, warfen Frauen ihre Mistkübel aus den Fenstern auf Nazidemonstranten. Auf dem Weg vom Gymnasium nach Hause geriet ich stets in diskutierende Gruppen von Arbeitern. Ich erinnere mich an die feurige Rede eines neugebackenen Nazi, der seine Zuhörer davon überzeugen wollte, daß Kriege nötig sind, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.

Die Antwort, einfach und klar, erhielt er in reinstem Kölsch: "Dann häng dich doch op. Dann is doch als ein winniger do." (Dann häng dich doch auf, dann ist doch bereits einer weniger da.)

Am 20. Juli 1932 setzte die Reichsregierung von Papen per Notverordnung die sozialdemokratische preußische Regierung ab. Sie begründete das mit der Notwendigkeit, selbst für Ruhe, Ordnung und Sicherheit sorgen zu müssen, weil die Sozialdemokraten die von kommunistischer Seite hervorgerufenen Unruhen in Preußen nicht im notwendigen Umfange bekämpften.

Dieser kalte Staatsstreich der Reichsregierung brach der Republik das Rückgrat. Er verlief "programmäßig und ohne Zwischenfälle". So von Papen in Der Wahrheit eine Gasse (München 1952, S.218). Um 10 Uhr morgens, am 20. Juli 1932, hatte der sozialdemokratische preußische Innenminister Karl Severing noch erklärt, er werde "nur der Gewalt weichen". Um 20 Uhr abends erschien die Gewalt in Gestalt eines Polizeipräsidenten nebst zwei Polizeioffizieren, und er wich. Später sagte er, er habe Blutvergießen vermeiden wollen.

Hätte er es doch damals nicht vermieden! Dann wären uns Millionen in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, Gefolterte, Erschlagene, Vergaste, im Zweiten Weltkrieg Gefallene vielleicht doch noch erspart geblieben. Evelyn Anderson jedenfalls schreibt über die ruhmlose Kapitulation der stärksten Festung der Sozialdemokratie: "In allen deutschen Städten standen Formationen des Reichsbanners und der Eisernen Front bereit, putzten ihre Gewehre und warteten auf den Befehl zur Tat" (Hammer oder Amboß, Nürnberg 1948, S.206). Henning Duderstadt sagt noch bestimmter: "Wir fieberten, wir warteten auf das Signal zum Kampf! Generalstreik! Jeder bewaffnet sich, wo er kann. Sieg oder Tod!" (Vom Reichsbanner zum Hakenkreuz. Wie es kommen mußte. Ein Bekenntnis, Stuttgart 1933, S. 31 f.).

Der "Befehl zur Tat", das "Signal zum Kampf", sie blieben aus.

Die Stationen der schrittweisen Kapitulation vor den Nazis bis zur tiefsten Erniedrigung in den Schreiben des Führers des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Theodor Leipart, vom 21. und 29. März 1933 an den Führer des Deutschen Reiches Adolf Hitler waren schändlich. Im Namen des Bundesvorstandes erklärte Leipart, der ADGB müsse seine sozialen Aufgaben erfüllen, "gleichviel welcher Art das Staatsregime ist". Im Reichstag stimmten am 17. Mai 1933 die sozialdemokratischen Abgeordneten Hitlers "Friedensresolution" zu, weil -- wie sie sagten -- dies eine Bejahung einer friedlichen deutschen Außenpolitik und nicht ein Vertrauensvotum für Hitler sei. In Wirklichkeit hofften sie, durch ihren offenen Verrat an der sozialistischen Idee, ihre Organisation zu retten und gnädigst in die "deutsche Volksgemeinschaft" aufgenommen zu werden. All das grub sich tief in die Herzen und Köpfe derer ein, die mit Gefängnis, Zuchthaus, Konzentrationslager oder Emigration bezahlen mußten, daß ihre Führer der Gewalt der Mächtigen kampflos gewichen waren.

Erst als ich den Fackelzug der bewaffneten SA durch die kommunistische Hochburg Kölns, die Thieboldsgasse, marschieren sah, vorbei an den haßerfüllten, stummen, durch ihre Führung wehrlos gemachten Proletariern und ihren vor ohnmächtiger Wut weinenden Frauen, wußte ich: es ist vorbei. Wir wurden geschlagen, ohne auch nur einen Versuch zur Gegenwehr. Wir wurden ausgeliefert.

Allen, die hinterher den "Massen" die Schuld für ihr eigenes Versagen aufbürden wollten, muß man in Erinnerung rufen: In den letzten einigermaßen freien Betriebsratswahlen, die von den Nazis im April 1933 durchgeführt wurden, weil die Nazis selbst daran glaubten, sie hätten in den Betrieben an Boden gewonnen, erhielten die Freien Gewerkschaften 73,4 Prozent der Mandate und die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) 11,7 Prozent. Die Basis zum Widerstand war da. Aber die Führung war desertiert.


2.

Sieben Monate nach meinem Abitur, am 2. November 1933, kam ich in Palästina im Hafen von Haifa an. Es war der Jahrestag der 1917 vom britischen Außenminister Balfour abgegebenen Erklärung, die den Juden im arabischen Palästina eine "nationale Heimstätte" zusicherte. Die Araber streikten an diesem Tag. Sie protestierten gegen die Balfour-Deklaration. Wir wurden nach Jaffa verfrachtet, wo ich mit einem halben englischen Pfund in der Tasche landete. Mein Ziel war ein Kibbuz.

Würde man mich fragen, woher meine unverrückbare Zuversicht stammt, daß Menschen Habsucht, Jagd nach Geld, Konkurrenzneid, Selbstsucht, Unterwürfigkeit -- jene ihnen zum großen Teil vom Kapitalismus mühsam anerzogenen "menschlichen" Eigenschaften -- ablegen können; würde man mich fragen, wo die tiefste Wurzel meines Glaubens daran liegt, daß Menschen ohne jeden äußeren Zwang als Gleiche und Freie im Kollektiv ihr Leben selbst gestalten können, ich würde antworten: Das hat mir meine Erfahrung in der Praxis des damaligen Kibbuz bewiesen.

Isaac Deutscher schreibt in seinen Essais sur le problème juif (Payot 1969, S.126 f.), ihm sei in einem Kibbuz, "dessen Mitglieder allen Grund haben, stolz zu sein auf ihre (gesellschaftliche) Moral und die sich dessen sehr wohl bewußt sind", folgendes passiert: Der diplomatische Vertreter der Sowjetunion besuchte mit seinem Stab Kibbuzim, um sie mit den Kolchosen vergleichen zu können. Nachdem er die moderne Molkerei, die Schule, die Bibliothek und vieles andere gesehen hatte, erkundigte er sich nach dem Gefängnis. "Das gibt es hier nicht", erhielt er zur Antwort. "Das ist unmöglich", stieß der Diplomat hervor. "Was zum Teufel fangt Ihr mit Euren Verbrechern oder Missetätern an?" Man bemühte sich vergeblich, ihm zu erklären, daß es noch kein so schweres Verbrechen gegeben habe, das eine Gefängnisstrafe gerechtfertigt hätte. Schließlich wähle man die Mitglieder des Kibbuz sorgfältig aus. Es seien Menschen mit einer hohen sozialistischen Moral. Man könne Mitglieder, deren Verhalten nicht gebilligt wird, auch ausschließen. Dem sowjetischen Diplomaten wollte es jedoch nicht in den Kopf hinein, daß eine Gemeinschaft von Hunderten Menschen ohne Gefangene auskommen kann. Er glaubte, man wolle ihm "potemkinsche Dörfer" vorführen.

Aber welcher Anhänger unserer "sozialen Marktwirtschaft" würde glauben, daß der "Leistungswillen" in den Kibbuzim, in denen heute mehr als 100 000 Menschen leben, durch die egalitäre Befriedigung der Lebensbedürfnisse, ohne jegliche Geldentlohnung für die Arbeit, nicht beeinträchtigt wird? Wer von ihnen würde glauben, daß ein Genosse aus dem Kibbuz Parlamentsabgeordneter oder Diplomat sein kann und zu Hause als Traktorist oder Helfer in der Küche arbeitet, wenn er hierzu eingeteilt wird? Wer von ihnen würde begreifen, daß eine selbstverwaltete Gesellschaft ohne Vorgesetzte, ohne Polizei, mit frei gewählten, jederzeit absetzbaren Ausschüssen unter schwierigsten Bedingungen eine gewaltige Aufbauleistung vollbringen kann, wie die Kibbuzniks es taten?

Wer würde glauben, daß die Gemeinschaftserziehung der Kinder -- sie sind nur wenige Stunden am Tag mit den Eltern zusammen -- dazu führt, daß "die Kinder Kameraden sind, nicht Konkurrenten", daß "die Hilfsbereitschaft bei diesen Kindern viel stärker ausgeprägt ist als das Streben nach Herrschaft. Da keine Eltern da sind, um deren Gunst man (im Kinderhaus) buhlen könnte, und da das Wetteifern allgemein nicht geschätzt wird, verhalten sich die Kinder wie Geschwister; die Starken üben einen gewissen Einfluß aus, aber sie wenden ihn auch im Interesse der Gruppe an" (Bruno Bettelheim, Die Kinder der Zukunft, dtv 888, S.90).

Ich habe die Geburtswehen, die gesellschaftlichen Experimente, die großartigen Versuche zur Herstellung neuartiger Beziehungen zwischen Mann und Frau, zur Eingliederung von Alten und körperlich Behinderten, das Leben in Zelten, durch die nachts Schakale liefen, wie die Legende es vom Tempelplatz erzählte, das Leben in Baracken, Malariaanfälle, die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Orangenplantagen, in denen wir Lohnarbeiter waren, ehe der Kibbuz Siedlungsland erhielt, fünfeinhalb Jahre lang nicht etwa nur "ertragen". Mir war bewußt, an einem großen Abenteuer mitzuwirken, das einmal zur Schaffung des sozialistischen Menschen führen wird.

Viele Jahre später ging ich mit der siebenjährigen Nurith aus dem Kibbuz Dalia durch die Altstadt von Jerusalem. Sie sah zum ersten Mal Bettler. Ich versuchte zu erklären, was das ist, gab ihr ein paar Münzen, damit sie eine gute Tat vollbringen konnte. Sie legte in die erste, in die zweite, in die dritte Hand, die sich ihr entgegenstreckte, eine Münze, dann trat sie entschlossen auf einen Bettler zu, gab ihm das ganze Geld und sagte: "Da, nimm das und teil es mit deinen Genossen!" In diesem Augenblick wußte ich, daß die gesellschaftliche Erziehung des neuen Menschen in Kibuzzim, in Kommunen, den neuen Menschen hervorbringen wird.

Ich trat aus dem Kibbuz nicht aus. Ich wurde ausgeschlossen. 1936 war ein arabischer Aufstand ausgebrochen. Wir zogen Stacheldraht um den Teil, der als Wohnfläche diente, schafften einen Scheinwerfer an, der nachts über das Lager kreiste, bauten aus Holz und Steinen Schanzen mit Schießscharten. Noch kurze Zeit zuvor hatte der als Nachtwächter eingeteilte Genosse zu unser aller Schutz nur einen Knüppel erhalten. Das war die einzige Waffe, die wir hatten. Sie war der Grundstock zu der heute so mächtigen israelischen Armee. Jetzt wurden illegale, geheime Waffenarsenale unter den Zeltstangen gut versteckt eingebaut. Sie waren leicht erreichbar. Die "Hagana" -- die zionistische "Selbstschutzorganisation" -- begann uns auszubilden: Revolver, Handgranaten, Gewehre, Maschinenpistolen. Aber wer war der Feind?

Das Dorf Karkur, wo unser Kibbuz damals war, lag an der Grenze des jüdischen Siedlungsgebietes. Als ich 1933 nach Palästina kam, lebten 175 000 Juden unter 1,5 Millionen Arabern. Der "Haschomer Hazair", die linkssozialistische, stark stalinistisch beeinflußte Kibbuzbewegung, wollte, daß sich die arabischen zusammen mit den jüdischen Arbeitern in einer gemeinsamen Klassenorganisation, der "Histadruth" (Gewerkschaft) zusammenschließen. Der "Haschomer Hazair", dem auch mein Kibbuz angehörte, erwartete, daß eines Tages ein "binationaler" arabisch-jüdischer Staat in Palästina entstehen wird. Beides wurde von der sozialdemokratischen Mehrheit in der Histadruth, der Mapai, abgelehnt.

Wenn man in einem solch armen Land wie in Palästina einen jüdischen Staat mit einer jüdischen Arbeiterklasse und nicht nur eine weiße Siedlerherrenschicht wie in Südafrika schaffen wollte, konnte dies nur auf Kosten der arabischen Bevölkerung gehen. Darum wurde propagiert: "Kauft die Produkte des Landes." Das waren die jüdischen Produkte, die teurer waren als die arabischen. "Erobert die Arbeit" sagte man uns, also: ersetzt die billige, unorganisierte arabische Arbeit durch teure, organisierte jüdische (wobei man gleichzeitig die Histadruth, die Gewerkschaftsorganisation, für die Araber versperrte!). "Erobert den Boden" hieß die dritte Losung. Man kaufte von den reichen arabischen Effendis, den Großgrundbesitzern, den Boden mit Hilfe des jüdischen Nationalfonds, der ihn ausschließlich an jüdische Siedler verpachtete. Die armen arabischen Fellachen, die meist Pächter waren, wurden mit Geld abgefunden, mit dem sie wenig anfangen konnten.

Die Haltung der Mapai war durchaus schlüssig. Man mußte bereits innerhalb des arabischen Palästina einen geschlossenen jüdischen Wirtschaftssektor schaffen und diesen immer mehr ausweiten, wenn man eines Tages einen jüdischen Staat haben wollte. Unterstützung hierfür kam von zwei Seiten: vom britischen Imperialismus, der trotz aller Schwankungen stets auf der Seite der Zionisten blieb, und von den amerikanischen Juden, die Geld spendeten.

Daß dieser Plan aber überhaupt Erfolg haben konnte, verdanken die Araber Hitler. Er hatte die sich auflösenden, in voller Assimilation befindlichen deutschen Juden zunächst ins Ghetto und später in die Todes- und Vernichtungslager geschickt. Für sie, aber auch für die nichtzionistische jüdische Arbeiterklasse in Osteuropa, wurde Palästina zum einzigen Schlupfloch, weil die so humanen demokratischen imperialistischen Staaten, gebeutelt von der Weltwirtschaftskrise, sich weigerten, jüdische Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen.

Eines Tages, als ich im Kibbuz hinter unserer holzverkleideten steinernen Schanze auf Wache stand, sah ich Flugzeuge, die wie Raubvögel immer wieder auf einen kahlen Berg niederstießen. Dann folgten Maschinengewehrgarben, die mit einzelnen Schüssen beantwortet wurden. Einige Stunden später kamen britische Soldaten zu uns und erzählten, sie hätten eine arabische "Bande" -- etwa 60 Menschen -- wie Hasen abgeschossen. Die Briten bewunderten den Mut dieser Männer, die versuchten, mit ihren Gewehren die britischen Flugzeuge zu treffen und die sich, wenn man sie verwundet gefangen nehmen wollte, noch mit ihren "Djabries", den arabischen Krummdolchen, auf die Soldaten stürzten.

(Dieser Tage las ich im Stern, Nr.4/78, der GSG-Kommandeur Wegener habe sich in Mogadischu überrascht gezeigt über "die heftige Gegenwehr der Palästinenser". Er habe geglaubt, daß Araber nicht sehr mutig seien. Jetzt kämpften sie wie Japaner auch in aussichtsloser Position weiter. Wegener: "Das war neu und erschreckend. Die Leute hatten eine riesige Energie und einen fanatischen Haß."

Niemand fragt danach, ob die Wurzel dieses Hasses nicht in der unterdrückten Freiheitsliebe dieses Volkes liegt, sowie in dem unbändigen Zorn darüber, dreißig Jahre lang in Lagern zu vegetieren.)

Einige von uns im Kibbuz begannen damals Fragen zu stellen über unsere "Feinde". Wir kamen zu dem Ergebnis: diesen Menschen geschieht unrecht. Wir, die wir selber Opfer Hitlers sind, verüben an ihnen Unrecht. Wenn wir es ernst meinen mit unserem Internationalismus, müssen wir einen Weg suchen zu diesen arabischen Massen.

Wir wollten den Kibbuz nicht verlassen, der unsere Heimat, unsere Lebensform, unsere Familie war. Bald aber mußten wir begreifen, daß, wer nicht mehr Zionist ist, nicht im Kibbuz leben darf, der trotz seiner fortschrittlichen gesellschaftlichen Experimente die Speerspitze des Zionismus bildet. Standen nicht auch die katholischen Klöster im Mittelalter, diese wunderbaren Kommunen, die alle damaligen Schätze der menschlichen Kultur aufbewahrten und mehrten, im Dienste der feudalistischen Kirche, die eine der furchtbarsten Unterdrückungsmächte war, gegen die sich Reformation und Bauernaufstände richteten?

Wenige Monate nachdem wir den Kibbuz verlassen hatten, zwei Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurden drei von uns Ausgeschlossenen verhaftet und interniert. Administrativ, ohne jedes Gerichtsverfahren, erhielten wir 12 Monate zudiktiert, die beliebig verlängert werden konnten. Wir kamen zum ersten Mal mit dem britischen Imperialismus in Berührung, der jüdische Nichtzionisten als Gefahr ansah.

Im Polizeigefängnis von Haifa wurden etwa 30 Häftlinge so eng in einem Raum zusammengepfercht, daß man sich nicht einmal beim Schlafen ausstrecken konnte. Wir lagen nachts auf dünnen Matten, die von Gefangenen aus Lumpen geflochten waren; tagsüber saßen wir auf dem Zementboden zusammen mit Kriminellen, mit Menschen, die offene Tbc, Geschlechtskrankheiten, die Krätze oder Läuse hatten. Hier gab es zwischen Juden und Arabern keine Unterschiede mehr, ebensowenig wie zwischen Politischen und Kriminellen. In der Zelle gab es weder Tisch noch Stuhl. In der Ecke stand ein offener Pißkübel.

Einige Tage darauf wurden wir in die Festung Akko eingeliefert. Eine Nacht lang war ich dort mit Mitgliedern einer arabischen "Bande" zusammen, die wir heute Partisanen oder Freischärler nennen würden. Ihre Moral, die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie diskutierten, ihr Kampfwille -- einige von ihnen waren zum Tode verurteilt und wurden hingerichtet -- hinterließen einen tiefen Eindruck auf mich.

Tags darauf wurden wir von einem Aufseher instruiert, wir würden nun ärztlich untersucht und müßten Fragen mit "Yes Sir" beantworten. Wir standen in einer langen Reihe, wurden einem britischen Militärarzt vorgeführt, der fragte: "Everything alright?" Wir antworteten: "Yes Sir". Die medizinische Inspektion war beendet.

Nachdem 12 Monate meiner Internierung abgelaufen waren, wurde die Haft automatisch für weitere 12 Monate erneuert. Mit uns zusammen -- wir waren inzwischen nach Sarafand überführt worden und kamen später nach Masra -- war ein Sekretär der Palästinensischen Kommunistischen Partei, Meir Slonim, interniert seit sechs Jahren, ohne Prozeß, ohne Urteil.

Eines Tages wurde eine Gruppe jüdischer Strafgefangener -- 43 Mann -- in das benachbarte Lager eingeliefert. Sie waren zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden, weil sie britischen Soldaten mit voller Bewaffnung in die Arme gelaufen waren. Ihr Anführer hieß Mosche Dayan. Natürlich wurden sie lange vor Ablauf ihrer Strafe entlassen.

Unter uns Häftlingen übten wir Solidarität, und da wir als Internierte das Recht hatten, Geld zu erhalten und zusätzliche Nahrungsmittel zu kaufen, schmuggelten wir einen Teil davon in das Lager der Strafgefangenen, in dem auch Mosche Dayan saß, mit dem ich über den Zaun hinweg fruchtlose Diskussionen führte. Zusammen interniert mit uns waren auch die bedeutendsten Führer der rechtsradikalen zionistischen Terroristen, wie Abraham Stern, Abrascha Zehner und David Razill, Vorläufer Begins als Führer des "Irgun".

Die Linken im Lager organisierten gemeinsam mit den arabischen Häftlingen, die zu hunderten interniert waren, einen Hungerstreik, um endlich ein ordentliches Gerichtsverfahren zu bekommen. Wir wurden zwangsernährt und erhielten nach sieben Tagen das Versprechen, daß wir vor eine Kommission gestellt würden, die unsere Fälle überprüfen werde.

In den zweieinviertel Jahren, die ich interniert war, habe ich nicht nur Sprachen gelernt, eine Art Lageruniversität mitorganisiert, sondern auch erfahren, was die drei Buchstaben CID (Criminal Investigation Department) bedeuten, die ich vor meiner Verhaftung gar nicht kannte. Sie bedeuteten, daß Häftlingen Holzstäbchen unter die Fingernägel getrieben wurden, daß man Feuer unter ihren Fußsohlen anzündete, daß sie an den Händen aufgehängt wurden, bis sie vor Schmerz brüllten; und all das, um Aussagen von ihnen zu erpressen. Ich lernte, daß der demokratische Imperialismus im Kampf für die Erhaltung seines Imperiums manchmal nicht weniger zimperlich ist als der Faschismus, der auszieht, ein neues Imperium zu erobern.

Drei Monate nach dem Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion kam ich endlich vor eine britische Untersuchungskommission. Sir Hartley Shawcross, ein in Gießen geborener englischer Jurist, der 1945 Labour-Abgeordneter, dann Kronanwalt und später Hauptankläger für Großbritannien vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg war, führte den Vorsitz. Er wollte wissen, was eigentlich gegen mich vorliege, und war ebenso wie mein Anwalt, der bedeutende jüdische Arabist Goitein, über die "Beweise", die von der Polizei geliefert wurden, überrascht, ja empört. Shawcross verfügte meine Freilassung.

In den zweieinviertel Jahren meiner Internierung hatte nur ein Vetter von mir es gewagt, mich ein einziges Mal zu besuchen. Jeder, der um die entsprechende Erlaubnis bat, wurde von der CID darauf aufmerksam gemacht, welchem Risiko er sich damit aussetzt.

Nach meiner Entlassung stand ich dennoch lange unter Polizeiaufsicht, was mich nicht daran hinderte, nun zum ersten Mal wirklich mit arabischen Linken Verbindung aufzunehmen, unter denen ich Freunde gewann. Während des Krieges kamen wir über sympathisierende marxistische Soldaten mit der ägyptischen Literaturzeitschrift Megalla Gedidah (Neue Zeitung) in Kontakt. Wir traten in eine politische Diskussion mit den Redakteuren ein, von denen 1947 einige an der ersten großen Massenstreikbewegung ägyptischer Arbeiter Anteil hatten.

Als das Kriegsende kam, bereitete ich mich auf die Rückkehr nach Deutschland vor. Einige meiner Freunde waren in die Armee, zur Marine oder zur UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) gegangen und setzten sich in Europa ab. Eine internationalistische politische Arbeit in Palästina schien mehr und mehr aussichtslos. Die terroristischen Attentate des rechtsextremen Irgun Zwai leumi (Nationale Militärorganisation) -- einer ihrer Führer war der jetzige Ministerpräsident Israels, Menachem Begin --; die Anschläge der Stern-Organisation, das britische Hauptquartier in Jerusalem, das King David Hotel, wurde in die Luft gejagt, wobei fast 100 Menschen umkamen; der Terror vor den Raffinerien von Haifa, wo in der Schlange der dort nach einem Tag Arbeit anstehenden arabischen Fellachen eine Bombe explodierte, die mehr als 40 Menschen zerriß; schließlich der blutige Pogrom gegen das arabische Dorf Dir Yassin, in dem auch Frauen und Kinder ermordet wurden, und viele andere Attentate ließen eine friedliche Lösung immer weniger zu. Als ich sah, wie meist orientalische Juden aus arabischen Dörfern bei Jerusalem fortschleppten, was nicht niet- und nagelfest war, oder armselige Behausungen niederrissen, erinnerte ich mich wieder an den Pogrom der Polen. Nur: Hier wurden Juden zu Pogromisten.

1947 beschlossen die Vereinten Nationen -- die USA gemeinsam mit der Sowjetunion -- die Zweiteilung Palästinas. Die Araber beantworteten dies mit einem Generalstreik. Tagtäglich explodierten nun arabische oder jüdische Bomben, wurden Menschen ermordet. Wenn man sich morgens verabschiedete und zur Arbeit ging, sagte man sarkastisch: "Auf Wiedersehen in der Abendzeitung". Dort wurden die Bilder der Ermordeten veröffentlicht.

Anfang 1948 kam ich mit einem Touristenvisum und einem Paß des britischen Mandatsgebiets Palästina in Frankreich an. Von dieser Zeit an durchlebte ich zuerst in Frankreich, dann in Belgien das Schicksal eines Emigranten, dessen Mandatspaß seine Gültigkeit verlor und der stets im Clinch mit den Polizeibehörden lag, die ihn ausweisen wollten. Denn die britische Regierung hatte beschlossen, ihre Truppen aus dem Mandatsgebiet Palästina am 14.5.1948 zurückzuziehen. Am gleichen Tag wurde der Staat Israel ausgerufen. Die Truppen der arabischen Staaten, die versuchten, die Entstehung des Staates zu verhindern, wurden geschlagen. In Panik flohen Hunderttausende Araber in die Nachbarstaaten. Sie gingen in die Diaspora wie die Juden 1900 Jahre vor ihnen.

1933 war ich als Jude in das arabische Palästina gekommen. Als ich 1948 das Land verließ, waren die Araber zu Juden geworden. Ich kehrte im November 1948 als überzeugter Internationalist nach Deutschland zurück. In der falschen Hoffnung, die Geschichte würde dort weitergehen, wo sie nach der Revolution von 1918 unterbrochen worden war.

3.

Mag sein, daß es wirklich Menschen gibt, die niemals schwanken. Die Heiligen der katholischen Kirche etwa, oder die Bolschewiken aus der Retorte der stalinistischen Geschichtsfälscher. Aber die Entwicklung des Nachkriegseuropa, vor allem die enttäuschte Hoffnung auf das Verschwinden der blutigen Herrschaft Stalins nach dem Krieg und des Sieges der sozialistischen Demokratie in Europa und in der Sowjetunion machten mir schwer zu schaffen.

Drei Monate vor dem Tod Stalins veröffentlichte ich eine kleine Schrift: Aufstieg und Niedergang des Stalinismus - Kommentar zum kurzen Lehrgang der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Unter den Linken in der Bundesrepublik, aber vor allem unter Kommunisten in der DDR, wo die Tradition der marxistischen Analyse durch den Faschismus und den Stalinismus angeschlagen war, löste diese Schrift Diskussionen aus.

Ein Kapitel darin trägt die Überschrift: "Revolutionärer und bürokratischer Terror". Es beginnt mit der Feststellung, daß, wie immer man subjektiv den Terror, die Gewaltanwendung in der Geschichte verabscheuen mag, sich nicht leugnen lasse, daß die Gewalt zuweilen eine Hebamme der Geschichte gewesen ist.

"Angefangen von der puritanischen englischen Revolution bis zu den amerikanischen Befreiungskriegen gegen die Engländer, dem Kampf um die Befreiung der Sklaven in den Südstaaten Amerikas oder der Französischen Revolution hat die Gewaltanwendung eine Rolle gespielt. Gewalt wird in der gleichen Weise vom Chirurgen angewandt, der einen Patienten mit einem Skalpell behandelt, und vom Mörder, der sein Opfer mit einem Dolch tötet. Man kommt also um die Frage nicht herum, wer zu welchem Zweck Gewalt anwendet. Wie unterscheidet man jedoch die revolutionäre von der reaktionären Gewalt? Wie kann man feststellen, ob Gewaltanwendung dem Fortschritt dient oder den Fortschritt behindert?"

Ich zitierte, was Mark Twain, einer der aufrichtigsten amerikanischen Schriftsteller und Journalisten, ein wahrhafter Verfechter der amerikanischen Demokratie, über die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution in seinem Buch Ein Yankee am Hofe von König Artus schrieb:

"Es gab zwei Schreckensherrschaften, wenn wir uns daran erinnern und es erwägen würden. Die eine verübte Mord in heißer Leidenschaft, die andere hatte tausend Jahre gedauert. Die eine verhängte Tod über zehntausend Personen, die andere über hundert Millionen, aber unser Schaudern gilt nur dem ,Schrecken des kleineren Terrors, des momentanen Terrors sozusagen: Was aber ist der Schrecken eines raschen Todes durch das Beil, verglichen mit dem lebenslangen Sterben durch Hunger, Kälte, Schimpf, Grausamkeit und an gebrochenem Herzen?. . . Trotz allem scheinheiligen Gewinsel vom Gegenteil hat noch kein Volk der Welt jemals durch gütliches Zureden und moralische Überredung seine Freiheit erlangt, da es ein unabänderliches Gesetz ist, daß jede Revolution, die Erfolg haben will, mit Blutvergießen beginnen muß, wenn auch nachher vielleicht etwas anderes genügt."

Wie aber sah es mit der Schreckensherrschaft der russischen Revolution aus? Ich schrieb:

"Man kann ohne jede Übertreibung feststellen, daß die vom Stalinismus angewandten Mittel den von ihm selbst angegebenen Zweck beständig verfehlen. Die Sowjet-Demokratie hatte sich als hinreichend erwiesen, die herrschenden Klassen selbst zu vernichten. Aber um die Überbleibsel (der herrschenden Klassen) in der Wirtschaft und im zurückgebliebenen Bewußtsein der Menschen zu bekämpfen, braucht Stalin angeblich den gewaltigen Machtapparat seiner Geheimpolizei! In Wirklichkeit ist es so, daß das Aufleben der Ideologie der geschlagenen antileninistischen Gruppen die immer wieder aufflackernde Idee des echten Marxismus und Leninismus ist, der eben nie ausstirbt, weil er von der Sowjetwirklichkeit selbst tausendfach immer neu hervorgebracht wird: jene tiefe Sehnsucht der Massen zur Wiederbelebung der Demokratie in der Sowjetunion und das Drängen zur Beseitigung jener stalinistischen Kaste, die, ohne im wissenschaftlichen Sinne eine besitzende Klasse zu sein, zehnfach die Laster aller besitzenden Klassen enthält.

Der stalinistische Terror, angeblich ein Mittel, die Klassenherrschaft zu beseitigen, ist in Wahrheit ein Mittel, das dieses Ziel beständig verfehlen muß, und insofern eben kein Mittel, das den Zweck heiligt, sondern ihn schändet...

Der bürokratische Terror ist im Gegensatz zum revolutionären hinterhältig, inquisitorisch und unehrlich. Er wendet sich mit größter Niedertracht gerade gegen jene, die sich weigern, in diesem Regime der Unterdrückung eine klassenlose sozialistische Gesellschaft zu sehen. Die Wahrheit ist der größte Feind der Bürokratie, aber sie kann auf die Dauer nicht mit terroristischen Methoden ausgerottet werden. Sie wird auch die stalinistische Geheimpolizei überleben."

Das hat sie getan. Der 20. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Arbeiteraufstände in den Satellitenstaaten, jetzt die Charta 77, das Buch von Bahro, der Protest der 14 polnischen Kommunisten, die Entwicklung der Eurokommunisten bei all ihren Mängeln -- all das bezeugt, daß ich mich nicht in allem geirrt habe, als ich drei Monate vor Stalins Tod den Niedergang des Stalinismus kommen sah. Dennoch, meine optimistische Zeitrechnung, meinen Optimismus in bezug auf die Entwicklung der Linken in den sozialdemokratischen Parteien muß ich revidieren. Die kurze Zeitspanne eines Menschenlebens reicht eben nicht aus, um historische Prozesse an ihr zu messen, obwohl sich der Gang der Geschichte erheblich beschleunigt hat. Das macht uns ungeduldig.

Was für den stalinistischen Terror gilt, trifft abgewandelt auch auf den individuellen Terror zu. Auch er verfehlt beständig den selbst angegebenen Zweck. Er führt nicht zur "Vernichtung des Klassenfeindes", sondern hilft seine Herrschaft zu stabilisieren. Er fördert nicht das zurückgebliebene Bewußtsein der Massen, sondern er verwirrt es. Der individuelle Terrorist macht sich selbst zum Helden der Geschichte, anstatt die Klasse der Arbeitenden über ihre historische Aufgabe aufzuklären, sie ihr bewußt zu machen, damit sie selbst wieder als Held auf die Bühne der Geschichte tritt.

Noch zweimal wurde ich nach der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus mit dem Problem der Gewalt konfrontiert. Das eine Mal -- ich war damals Sozialreferent im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik in Paris -- als der Aufstand in Algerien ausbrach. Mir war, nach allem, was ich von den Terrormaßnahmen, den Folterungen, den Razzien, den Bombardierungen in Algerien wußte, unbegreiflich, daß die "Front de Libération Nationale" und das algerische Volk all dem standhielten und nicht zusammenbrachen; daß die Algerische Befreiungsfront, die seit 1954 pausenlos einem gnadenlosen Terror ausgesetzt war, nicht aufgab. In einem Pariser Cafe stellte ich diese Frage der jungen, algerischen Schriftstellerin Assja Djebar. Sie antwortete:

"Wenn ein algerischer Fellache für den FLN rekrutiert wird, erhält er zum ersten Mal in seinem Leben ein paar Schuhe und ein Gewehr. Damit wird er zum ersten Mal zu einem Menschen. Das Selbstbewußtsein, das er hierdurch gewinnt, das Gefühl, daß er für die Befreiung seines Volkes kämpft, jetzt kämpfen kann, läßt ihn alles ertragen bis zum Sieg."

Viele Jahre später kam dieser Sieg, wenn auch wiederum nicht so, wie ihn viele erhofft und erwartet hatten: als Sieg des Sozialismus in Algerien. Aber dennoch: Algerien wurde frei.
Das zweite Mal trat mir die Gewalt in Chile entgegen, als ich zwei Monate nach dem Militärputsch für die Gewerkschaftszeitung Metall nach Chile ging. Ich fragte chilenische Gewerkschafter, ob man der Regierung Allende vorwerfen könne, sie habe die Verfassung verletzt, wie das damals ein großer Teil der bürgerlichen Presse in der Bundesrepublik behauptete. Sie antworteten:

"Wenn die Regierung Allende zugrunde gegangen ist, so höchstens darum, weil sie sich allzu sehr an die Verfassung gehalten hat. Wir, die Gewerkschaften, wollten rechtzeitig der Sabotage der Unternehmer und dem Boykott der von ihnen aufgehetzten Lastwagenbesitzer und Ärzte entgegentreten. Wir forderten, den Kampf gegen die Terroristen von Patria e Libertad.

Es war falsch, daß die Regierung Allende die Armee in die Politik hineingezogen hat, daß sie immer weiter zurückwich. Sie hätte mehr Vertrauen zu uns, zu den Gewerkschaften, zu den in den Betrieben Beschäftigten haben müssen, die bereit waren zu kämpfen, die aber mit leeren Händen nicht kämpfen konnten...

Mancher von uns denkt heute: Hätte die Unidad Popular doch den Mut gehabt, zwei Dutzend Generäle und drei Dutzend Spekulanten so zu behandeln, wie man heute mit Tausenden von uns umgeht, dann hätte uns das viele Opfer und Qualen erspart."

Ich fühlte mich wieder wie im Jahr 1933. Die politisch und militärisch unbewaffnete Gerechtigkeit hatte ihren Kampf gegen die waffenstarrende Ungerechtigkeit verloren.


4.

Aber aus welchen Quellen speist sich trotz aller Niederlagen meine Zuversicht in den Sieg des Sozialismus, den wir wollen? Die Befreiung Algeriens, Vietnams ist nur ein Teil der Antwort. Ein anderer Teil liegt in der Hoffnung, die jene vernichtete, in Gaskammern erstickte jüdische Arbeiterklasse Osteuropas bis zum letzten Atemzug, bis in ihrem Todesgesang aufrecht erhalten hat.

Die Hymne des "Bund" hatte in seltsam geheimnisvoller Weise einiges davon vorweggenommen, vorausgeahnt. In freier Übersetzung beginnt sie:

"Vielleicht bau ich in der Luft nur meine Schlösser. Vielleicht ist mein Gott überhaupt nicht da. Im Traum wirds leichter mir, im Traum wird es mir besser. Im Traum ist der Himmel blau und völlig klar."

Wer nicht im KZ ermordet, nicht in den Gaskammern umgebracht wurde, wer nicht in imperialistischen Kriegen gefallen ist, hat kein Recht dazu, den Kampf für den Sozialismus aufzugeben.

Lenin, der größte revolutionäre Realist war es, der sagte: "Der Mensch muß träumen können.""

JAKOB MONETA, "Mehr Gewalt für die Ohnmächtigen" (1978), in: J. M., Mehr Macht für die Ohnmächtigen. Reden und Aufsätze, isp-Verlag, Frankfurt a. M. 1991

***

Eine Würdigung von Jakob Moneta, diesem Urgestein der Arbeiterbewegung, der IV. Internationale und der Gewerkschaftslinken, kann man heute in im Neuen Deutschland und in der jungen Welt lesen. Schöne Porträts des langjährigen Chefredakteurs der Gewerkschaftszeitung Metall, unter dessen Ägide Günter Wallraff seine ersten Industriereportagen schrieb und der Wolf Biermann einst in die BRD zurücklotste, publizierten seinerzeit auch der Tagesspiegel und die Sozialistische Zeitung (SoZ). Für die SoZ hatte Moneta selbst, damals noch SPD-Mitglied, unter dem Pseudonym Anna Armand jahrelang Artikel verfaßt. Daß das ND den unverwüstlichen Sozialisten und Internationalisten jetzt noch fünf Jahre jünger macht, sollte man als gutes Omen dafür nehmen, daß der heute 95-Jährige auch den 100. Geburtstag, so wie er sich's vorgenommen hat, locker schafft.

Ad multos annos !!!