Avec la souillure nous entrons au règne de la Terreur.
(Paul Ricoeur, Finitude et Culpabilité, 31)
Dem Kapitalismus laufen in Scharen die Gläubigen davon. Und nicht nur die Gläubigen und das Fußvolk, sondern vor allem auch die Gläubiger, die Shareholder und die Aktionäre. Man nehme nur die Ereignisse der letzten Tage: In Hamburg hat Großmeister Piëch die letzten VW-Volksaktionäre vergrault, in Frankfurt platzt der milliardenschwere, von drei Großbanken eingefädelte Hochtief-Börsengang (die einzige nennenswerte deutsche Neuemission dieses Jahr, abgesehen von einem sino-teutonischen Mobilfunk-Emissiönchen), in Amerika krachte letzte Woche bereits das 130. Kreditinstitut dieses Jahr zusammen, und mit Dubai kollabiert gleich ein ganzer Finanzplatz (und wird nun womöglich, damit der Turmbau zu Babel noch ein bißchen weiter gehen kann, vom benachbarten Abu Dhabi übernommen).
Bei den journalistischen Hofschranzen des Kapitals aber ist nun Pfeifen im Walde angesagt. Was habt ihr nur, orakeln sie, das Schlimmste ist doch überstanden, die Börsen und die Hedgefonds boomen doch wieder, und auch den Investment-Banken geht’s doch wieder prächtig, jedenfalls was den Risikoappetit, die Stimmung, die Gewinne und Boni in diesen Geldkathedralen betrifft. Und das wird dann regelmäßig mit knallharten Fakten aus dem Leben der High Net Worth Individuals, genannt Fundamentaldaten, untermauert. „Händler und Investmentbanker, die eine Zweitwohnung in der Reichenenklave Palm Beach besitzen“, berichtet die FAZ, „fliegen jetzt wieder öfter mit dem Privatjet nach Florida“. Sehr beruhigend.
Und Dubai ?
Nun, Dubai ist für die Nutzwert-Journaille eine schöne Gelegenheit, den Finanzmoral-Apostel herauszukehren und den dummen Anleger-Schafen mal richtig die Leviten zu lesen. „Der Dubai-Schock jedenfalls hat Anleger wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Es kann nur gesund sein, wenn den Anlegern immer wieder die weiterhin hohen Risiken auf den Märkten bewußt gemacht werden“, predigt ein geborener Hiller von Gaertringen, Spezialist für Banken und Weinbau, der FAZ-Gemeinde zum Wochenende (FAZ, 5. 12. 2009, Seite 23). Und sein Welt-Kollege bläst in die gleiche Moralin-Posaune: „Die ehemalige Boom-Stadt ist ein mahnendes Beispiel für die Unwägbarkeiten von Nischenmärkten und noch nicht etablierten Kapitalmärkten.“ Mehr wollen, können oder dürfen sie nicht sagen. Das elfte Gebot für den „homo investor“ spart sich man auf, bis Felix Arabia endgültig in Schutt und Asche liegt: Du sollst dem Mammon in Nischenmärkten keine 1000 Meter hohen Minarette errichten !
Bei Josef „Joe“ Ackermann, aber der ist ja auch keine Hofschranze des Kapitals, sondern das Kapital himself (bzw. seine Charaktermaske), hat das jüngst doch etwas dramatischer geklungen. Freund Joe ließ sich, von seiner Busenfreundin Merkel ins Kanzleramt eingeladen, um eine dicke Lippe zu riskieren, nicht lange bitten und sprach von „einigen Zeitbomben“, die noch auf den Finanzmärkten tickten. Welche das genau sind, das sagte er natürlich nicht (er erwähnte neben Dubai nur einen möglichen Staatsbankrott Griechenlands), denn die Deutsche Bank will natürlich auch mit diesen Zeitbomben noch gutes Geld verdienen, und läßt sich bei ihren negativen Wetten auf das nächste Finanzdesaster nur ungern in die Karten schauen.
Die Suche nach Vertragspartnern und Gegenparteien für solche Derivate-Wetten aufs Unglück der anderen (d. h. der Vertragspartner, der Gegenparteien und den Rest der Welt) gestaltet sich freilich zunehmend schwieriger. Vorübergehend ist der Staat eingesprungen, hat sich noch einmal breitschlagen lassen und den Banken ihren ganzen toxischen Finanz-Schrott (praktisch ohne Gegenleistung, vor allem ohne Mitsprache- und Kontrollrechte) abgekauft, aber im Prinzip gilt: Die Partygäste haben genug, das Casino leert sich. Denn nun gehen, so scheint es, auch jene jüngst zum neoliberalen Evangelium bekehrten Gläubigen von der Fahne, denen man als Spätkonvertiten eine ganz besondere Passion für den Casino-Kapitalismus nachsagte. Einige internationale Investmentbanken seien „die größten Verbrecher“, ließ sich jüngst ein hoher chinesischer Funktionär vernehmen, der hunderte von Staatsunternehmen überwacht, die im Derivate-Geschäft mit Goldman Sachs, Morgan Stanley und anderen auf die Nase gefallen waren. Die Unternehmen (z.B. Fluggesellschaften) hatten den Banken Terminpapiere (z. B. auf Kraftstoff) abgekauft, wahrscheinlich im guten Glauben, sich hiermit gegen Preisveränderungen bei Kerosin abzusichern, doch das Gegenteil kam heraus: Es liefen Verluste von umgerechnet 1,1 Milliarden Euro an. Der Verkauf solcher Terminpapiere habe „betrügerischen Charakter“, schrieb der Funktionär nun in der Zeitung „Xuexi Shibao“, denn sie seien viel zu komplex und in der Beurteilung ihrer Risiken kaum zu überschauen.
Ähnliches mag sich, im stillen Stadtkämmerlein, auch mancher deutscher Stadtkämmerer schon gedacht haben, ein Berufsstand, der in den vergangenen Dekade von Finanzkonzernen mit bizarrsten Sale-and-lease-back-Konstruktionen („abgesichert“ durch 10000-seitige Verträge) gleich reihenweise über den Tisch gezogen wurde. Vom Großmütterlein, dem die Kreissparkasse Lehman-Zertifikate oder Manfred Krug Telekom-Volksaktien angedreht hat, ganz zu schweigen …
Wer, außer dem Staat, dessen Personal von der Hoch- und Konzernfinanz per Lobbyismus und Parteispenden gefügig gemacht oder (wie in der Bush- und Obama-Administration, aber auch Hans Eichels wichtigster Steuerberater, Heribert Zitzelsberger, inzwischen verstorben, kam aus einem DAX-Konzern) gleich direkt ausgeliehen wurde, kauft jetzt eigentlich noch den ganzen Schrott ? Auch der seit Frühjahr laufende Börsenboom ist doch gleich doppelt auf Sand (d. h. auf Staatsschulden und fiktives Kapital) gebaut; er basiert einerseits auf Kostensenkungen der Unternehmen (d. h. auf Entlassungen, auf Vernichtung von Humankapital und externalisierten Kosten, die nun via Kurzarbeitergeld, Hartz IV etc. der Staat trägt), andererseits aber auf einer klassischen Spekulationsblase, entfacht durch jene Zentralbank- und Staatsgelder, die man im Zuge der Bankenrettungspläne in den Markt gepumpt hat. Von dieser Blase profitieren einzig die Banken selbst bzw. jene institutionellen Investoren, an welche diese Gelder weitergereicht wurden.
Die Privatanleger aber, das geben die Experten zu, haben an der jüngsten Aktienhausse kaum teilgenommen. Und das ist, was oft übersehen wird, keine kurzfristige Entwicklung, sondern das geht jetzt (zumindest in Deutschland) schon seit Jahren so, genau genommen seit dem Jahr 2000, als der mit großem Tamtam aus der Taufe gehobene Neue Markt zusammenkrachte (und dann Juni 2003 verschämt geschlossen wurde). Seither ist die Zahl der Aktien- und Fondsbesitzer in Deutschland (die vom Deutschen Aktieninstitut jährlich per Umfrage ermittelt wird) dauerhaft im Sinkflug begriffen. Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 6,2 Millionen Aktienbesitzer, im Jahr 2008 waren es noch 3,5 Millionen, und auch die Kurve der Fondsbesitzer weist stabil nach unten (wenn auch deutlich flacher) – und das trotz Riester-Propaganda-Zirkus und ständigem Werbe-Trommeln für eine kapitalgedeckte Altersvorsorge. Die Zahl der Zertifikate-Besitzer (also der Käufer komplexer Finanzderivate wie Optionen oder Optionsscheine) ist ohnehin vergleichsweise gering: sie lag 2006, also vor der Finanzkrise, bei 480.000, es gab jedoch schon damals allein den Börsen in Frankfurt und Stuttgart mehr als 200.000 Typen, Produktvarianten und Einzelausgaben dieser Derivate-Papiere, wobei bis heute jeden Tag hunderte von neuen Titeln aufgelegt werden. Mit anderen Worten, es kann durchaus sein, daß es in Deutschland inzwischen schon mehr Zockerpapiere als Zocker gibt, denn wenn sich ein Produkt mal (wie die Lehman-Zertifikate) gründlich blamiert hat, basteln die Künstler von der Finanz-Verpackungsindustrie gleich wieder ein halbes Dutzend neuer „Best-Unlimited-Turbozertifikate“, „Put-down-and-out-Optionsscheine“ und wie sie alle heißen. Die einzige Bedingung dieser Produkte ist, daß sie monströs klingen und daß sie außer ein paar Raketenforschern in den Bankentürmen keiner mehr versteht: Nur so läßt sich der Betrieb im großen Wettbüro des Finanzkapitalismus aufrechterhalten, und nur so können die Finanzinstitute weiterhin ihren Reibach machen.
Womit kann man den „homo investor“, das vielfach gebrannte Kind, nach den zweieinhalb Finanzdesastern der letzten Dekade jetzt noch locken ? Das ist die tägliche Frage in Produktmarketing-Abteilungen der Finanzindustrie, und auch in den Finanz- und Börsenteilen der Tageszeitungen, ihrem verlängerten Arm, denn die hier beschäftigte Intelligentsia agiert schon lange nicht mehr autonom, auf eigene Rechnung oder mit eigenem Verstand, sondern eher wie eine journalistische Drücker-Bande im großen finanzkapitalistischen Strukturvertrieb.
Womit kann man diesen Privat- und Kleinanleger also noch locken ? Man kann ihn, so lautet die neueste posttraumatisch-finanzbehavioristisch aufgeklärte Antwort, am einfachsten locken, indem man an seine niedersten Instinkte, seine „animal spirits“, und gleichzeitig – denn ohne das geht’s dann doch nicht ganz - an sein gutes Finanz-Gewissen, d.h. an sein Krämer- und Weltbürger-Seelchen, appelliert. Die Finanzredaktion der FAZ, der Konkurrenz immer eine Nasenlänge voraus, war sich denn auch nicht zu schade, vergangene Woche eine vierspaltige Finanzprodukt-Offerte mit folgender sensationeller Schlagzeile aufzumachen:
"Privatanleger können vom Handel mit Schmutz profitieren"
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 12. 2009, Seite 21)
Ja, ist das denn die Möglichkeit, mag sich der geschockte Zeitungsleser (nennen wir ihn mal „homo sapiens“, denn zum „homo investor“ soll er ja erst noch oder wieder herangebildet werden) zunächst gefragt haben: Handel mit Schmutz, also mit dem Gegenteil von Wert, mit etwas, das jeder loswerden und keiner haben will, wo gibt’s denn so was ? Nein, das gibt’s tatsächlich, wir leben ja schließlich im Kapitalismus, da ist alles möglich, und der gute Mann mußte nur ein bißchen weiterlesen, da erfuhr er dann die ganze tolle Wahrheit:
"Die Besitzer oder Käufer spezieller Verschmutzungs-Wertpapiere können damit bares Geld verdienen."
Der Grund dafür, so erläuterte ihm dann der schlaue Redakteur, sei denn auch ganz einfach. Die EU-Regierungen hätten allen Fabrikanlagen „eine bestimmte Verschmutzungsmenge im Jahr“ zugeteilt, und diese „Verschmutzungsrechte“ seien anschließend an speziellen Börsen in London und Leipzig, die unsere wohlmeinenden Regierungen ja inzwischen auch aus dem Schmutz gehoben haben, eben auf den Heller und Pfennig genau notiert worden:
"Denn den Preis eines Verschmutzungsrechtes kann man dort genauso ablesen wie den Preis einer Volkswagen-Aktie an der deutschen Börse."
Die Banken waren nun natürlich auch nicht faul, sie hätten, so lesen wir weiter, für ihre saubere Kundschaft spezielle Schmutzpapiere kreiert und zertifiziert, die der Privatanleger dort, z.B. bei der Hypovereinsbank, der Commerzbank oder der Dresdner Bank, käuflich erwerben könne. Eines dieser Zertifikate koste jeweils so viel wie eine Tonne Schmutz, und die liege momentan an Leipziger Börse bei 13,50 Euro. Und als kleiner Service werden dem FAZ-Leser dann gleich auch noch die entsprechenden Schmutzpapier-Kennnummern mitgeteilt. Die Botschaft ist eindeutig: Kleiner Mann, ran an den Schmutz !
Kein Zweifel, mit diesem schmutzwertjournalistischen Scoop hatte die FAZ-Finanzredaktion die Latte ziemlich hoch gelegt. Die Konkurrenz mußte nachziehen, und sie tat es gleich am nächsten Tag, als nämlich die „Financial Times Deutschland“, unter dem Titel „Die Emissionare“ die Erfolgstory zweier Jung-Entrepreneure präsentierte, zweier „Dirty minds“, die in der Schmutz-Branche ihre Lebensaufgabe gefunden haben und „Mittelständlern (dabei helfen), ihre Verschmutzungszertifikate optimal zu verwalten“. Auch der „Spiegel“ ließ sich nicht lumpen, machte es aber dann erfreulicherweise kritischer und zeigt auf (Nr. 50, 7. 12. 2009, Seite 90-92), inwiefern in diesem ganzen schmutzigen Geschäft auch hübsche Chancen zur Umsatzsteueroptimierung liegen. (Die Story stammt denn auch vom "Wirtschaftsjournalisten des Jahres". Wir gratulieren !)
Wie geht’s jetzt weiter ? Was kommt noch ? Welche komischen Überraschungen hat der durchgeknallte Kapitalismus als nächstes in der Pipeline ? Nun, da fällt die Antwort nicht schwer: In dieser schmutzigen Richtung dürfte es wohl weiter gehen. Die seltsamen Hirne, die sich „Verschmutzungsrechte“, „Schmutz-Zertifikate“ und „Abwrackprämien“ ausgedacht haben, werden nicht ruhen, bis sie schließlich auch den ersten indexbasierten „Balanced Dirty Rubbish All Shares Global Fund“, angereichert mit einem Querschnitt der weltweit schönsten Schmutzbörsen, oder den „Transatlantic Best Select Media Bullshit Mixed Equity Fund“, aus einem Portfolio von Springer AG, Mediaset und Fox News-Anteilsscheinen, kreiert haben – sozusagen als Antwort auf die „Islamic Finance“, die ja nur mit ganz blüten- und astreinen Produkten handelt.
Und dann wächst die Blase wieder, sie wächst und wächst, und irgendwann platzt sie.
Was für eine Blase ?
Na, der globale Geld-Grün-Komplex, die große Schmutz-Blase.
Da heißt es jetzt frühzeitig einsteigen und dann rechtzeitig wieder aussteigen – das ist das ganze Kunststück.
Das ist der Börsen-Weisheit letzter Stuß.
Irgendwann, wenn keine bessere Lösung dazwischenkommt, wird man diesen Kapitalismus totschlagen wie einen tollen Hund.
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Zitat: Paul Ricoeur wird zitiert nach Christian Enzensberger, "Größerer Versuch über den Schmutz I", in: Kursbuch 10 (Oktober 1967) Seite 87
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