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Dienstag, 5. Januar 2010

Weshalb Geheimdienste gerne halbe Arbeit machen oder selber Feuer legen


"Dies ist das Thema der lehrreichen Fabel vom Löwen, der Maus und der Katze (Hitopadesha, Buch II, Kapitel 4).

Eine elende Katze, die von den Dörflern verstoßen, dem Hungertod nahe, mager und entkräftet durch die Felder strich, traf einen Löwen, und dieser half ihr aus der Not. Das königliche Tier lud das bejammernswerte Geschöpf in seine Höhle ein und teilte mit ihm die Reste seines majestätischen Mahles. Aber diese Einladung entsprach keineswegs der Nächstenliebe oder einem Zusammengehörigkeits-Gefühl. Der Löwe fühlte sich nämlich in seiner Höhle von einer Maus belästigt, die dort irgendwo ihr Loch hatte; wenn er sein Schläfchen machte, kam die Maus hervor und knabberte an seiner Mähne. Der mächtige Löwe vermag keine Mäuse zu fangen, die zierliche Katze aber kann es. Deshalb war hier die Grundlage für eine gesunde und vielleicht nützliche Freundschaft gegeben.

Die bloße Gegenwart der Katze in der Höhle genügte, die Maus in Schach zu halten, und so konnte der Löwe friedlich sein Nickerchen machen. Nicht einmal das Piepsen des kleinen Störenfrieds ließ sich vernehmen, denn die Katze lag ständig auf der Lauer. Der Löwe lohnte es ihr mit üppigen Gerichten, und der tüchtige Minister wurde fett. Eines Tages nun aber gab die Maus doch einen Laut von sich, und die Katze beging den elementaren Fehler, sie zu fangen und zu fressen. Die Maus verschwand, aber auch die Gunst des Löwen. Der Katzengesellschaft bereits überdrüssig, schickte der undankbare König der Tiere seinen tüchtigen Beamten zurück auf die Felder und in den Dschungel, wo er dem Hungertode wieder ausgesetzt war.

Die Lehre läßt sich in der Maxime zusammenfassen: „Tue deine Arbeit, aber laß immer etwas zu tun übrig. Durch den Rest wirst du unentbehrlich bleiben“.

Hier liegt eines von den vielen Geheimnissen der Geheimpolizei aller Länder - eines jener sinnreichen Geheimnisse, über die man nicht spricht."

= Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, posthum hrsg. von Joseph Campbell, übers. u. hrsg. v. Lucy Heyer-Grote, Rhein Verlag, Zürich 1961 (oder Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1973), Zweiter Teil, Kap. I, 4 (Die Funktion des Verrats), Seite 108

Originalausgabe: Heinrich Zimmer, Philosophies of India, ed. by Joseph Campbell, Bollingen Foundation Inc., New York 1951, Second Part, Chap. I, 4.


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Das Hitopadesha („Guter Rat“) ist einer der meistgelesenen Sanskrit-Texte Indiens. Es handelt sich um eine Sammlung von Tierfabeln, die vor rund zehn Jahrhunderten erstellt beziehungsweise komponiert sein soll. Die exakte Datierung und genaue Identität des angeblichen Verfassers Narayana Pandit scheinen allerdings schwer faßbar; er schöpft jedenfalls aus der älteren Sammlung Panchatantra (2. Jh. vor Chr. - 3. Jh. nach Chr.), der Mutter aller Tierfabel-Sammlungen. Das Hitopadesha soll nach der Bhagavadgītā, dem „hinduistischen Neuen Testament“ (das Alte Testament wäre dann der Rigveda, beide Vergleiche hinken natürlich, vor allem der zweite), das meistverkaufte Buch Indiens sein. Eine deutsche Teilübersetzung, herausgegeben von G. L. Chandiramani und illustriert von U. Dorfmüller, erschien als Kinderbuch in mehreren Bänden; im ersten Band ist auch unsere Tierfabel enthalten (Cover oben abgebildet).


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English Online Version: Hitopadesha, Book II (The Parting of Friends), Story 4 (The Cat Who Served the Lion)

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Musica: Focus, "La Cathédrale de Strasbourg" (from the album "Hamburger Concerto", 1974)