Dienstag, 12. Oktober 2010

Kapitalismus als Religion



Das war heuer ein seltsamer Nobelpreis-Reigen, erbaulich vor allem für die Liebhaber der westlich-liberalkapitalistisch gepolten Technokratie. Zuerst traf es einen britischen Physiologen, der im Vatikan prompt alle Alarmglocken schrillen ließ, am Dienstag und Mittwoch schlug dann die Stunde für das chemische Element Nr. 6, es wurden forsche kohlenstoff-forschende und palladiumkatalysierende Kreuzkoppler prämiert, am Donnerstag gab’s Dichterlorbeer für einen marktliberal gewendeten Kosmopoliten, der, nachdem er im Präsidentenpoker seiner Andenheimat einem Sohne Nippons unterlegen war, welcher inzwischen eine 25-jähriger Haftstrafe verbüßt, nunmehr mit spanischer Staatsbürgerschaft in London lebt… Am Freitag dann ein Glücksgriff unserer Juroren, sie hätten die Medaille ja auch an Tony Blair oder Dubya für's Durchziehen des Irak-Kriegs vergeben können, mit der Vergabe des Friedensnobelpreises an einen Aufrechten, der wegen verbaler "Untergrabung der Staatsgewalt" eine 11–jährige Haftstrafe im Reich der Mitte absitzt, während der letztjährige Preisträger (wie Martin Luther King, jener einzige Dissident eines NATO-Mitglieds, der je die irenische Trophäe empfing) aus dem Westen kam, dafür aber inzwischen mehr oder weniger blindlings – aber nicht ganz so mörderisch wie der einst in Indochina tätige Preisempfänger des Jahres 1973 – Bomben auf pakistanisches Staatsgebiet wirft …

Zum Abschluß, bei der Verleihung des Preis für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank in Gedenken an den Erfinder des Dynamits, kam dann verbal nochmal das chemische Element Nr. 6 zu Ehren in Gestalt eines gewissen Peter Diamond & zweier Kollegen, die nobilitiert wurden für theoretische Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, d. h. im Ökonomen-Kauderwelsch ausgedrückt: für ihre „Analysen von Märkten mit Suchfriktionen“.

Liest man die Begründung der Jury genauer, dann ist Dr. Peter Hartz sozusagen nochmal haarscharf am Nobelpreis vorbeigeschrammt.

Immerhin kann man den Juroren zugute halten, daß die Arbeitsmarkt-Theorie in einem fürchterlichen Zustand war, bevor sich Diamond & Konsorten ihrer dann in den Siebziger Jahren endlich mit einem grundstürzend neuen Ansatz erbarmten, der sogenannten Such-Theorie bzw. Schlüssel-und-Loch-Theorie, welche die ältere Äpfel-und-Birnen-Doktrin ersetzte.

Das behaupten jedenfalls Zeitzeugen, die in diesen heroischen Jahren der Wirtschaftswissenschaft dabei waren.

Hören wir etwa den Arbeitsmarkt-Ökonomen Michael Burda, der uns in der FAZ schildert, wie das die Kollegen damals trieben:

„Bis dahin hat man Arbeitsmärkte mit sehr einfachen Modellen, wie für die Märkte für Äpfel und Orangen, analysiert.“ (12. 10. 2010, Seite 11)

Man kann sich diesen Vorgang forschungsgeschichtlich und theoriedynamisch - dem heiligen Thomas S. Kuhn sei Dank, er erhielt ja nie den Nobelpreis ! - lebhaft ausmalen: Mit angewandter Botanik und Streuobst-Theorie kam die Arbeitsmarktforschung einfach nicht mehr weiter (der Apfel als autotrophe Spezies & Lebensform fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm und muß sich insofern nicht speziell auf die Suche machen); dann aber entdeckten Diamond & Co. die wunderbare Welt der Protozoen, Einzeller, Amöben, ein neues Wissenschafts-Paradigma entstand, und geboren ward die revolutionäre Such- bzw. Schlüssel-und-Loch-Theorie.

Bis die Arbeitsmarkt-Forschung ihre Standard-Theorie heuristisch entsprechend verfeinert hat, bis sie informationstheoretisch gut abgehangen und schließlich zur Komplexität der Primatenforschung fortgeschritten ist, wird zwar wohl noch ein kleines Weilchen vergehen. Pfadabhängig dürften erstmal die einfacheren Heterotrophen als Modelle des zoon oikonomikon dran glauben müssen, Heuschrecken, Lemminge, Karl von Frischs Bienen und Konrad Lorenz’ Graugänse…

Aber vielleicht schaffen das unsere Menschenmarkt-Ökonomen auch noch, bevor - das wird dann ein größerer Paradigmenwechsel - der Kapitalismus endgültig schlappmacht.

Die ganze Bagage ist ja von einem starken Glauben beseelt.

Diamond bekannte gestern:

„Ich glaube an Märkte und den Kapitalismus“. (FAZ, 12. 10. 2010, Seite 11)

Schön, daß neben Frau Theologia auch die Volkswirtschaft eine „Dogmengeschichte“ besitzt …




Image: Die Value Map Roland Ingleharts, in der man allerdings die Naturreligionen, Hinduismus, Buddhismus, Judentum, orthodoxe Christenheit und Islam vermißt ...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen