Dienstag, 3. November 2009

Besuch im Kyong

Die Menschen haben drei große religiöse Versuche unternommen, um sich von der Verfolgung der Toten, der Boshaftigkeit des Jenseits und den Ängsten der Magie zu befreien. In einem Abstand von etwa einem halben Jahrtausend haben sie nacheinander den Buddhismus, das Christentum und den Islam konzipiert; und es fällt auf, daß jede dieser Etappen in bezug auf die vorherige keinen Fortschritt, sondern vielmehr einen Rückschritt bedeutet. Für den Buddhismus gibt es kein Jenseits; alles beschränkt sich auf eine radikale Kritik, deren sich die Menschen nie wieder fähig erweisen sollten und an deren Ende der Weise zu einer Verweigerung des Sinns aller Dinge und Wesen gelangt; einer Disziplin, die das Universum und sich selbst als Religion aufhebt.

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Zwischen der marxistischen Kritik, die den Menschen von seinen ersten Ketten befreit – indem sie ihn lehrt, daß sich der scheinbare Sinn seiner Lage verflüchtigt, sobald er akzeptiert, den Gegenstand, den er betrachtet, weiterzufassen – und der buddhistischen Kritik, welche die Befreiung vollendet, besteht weder ein Gegensatz noch ein Widerspruch. Beide tun sie dasselbe, wenn auch auf jeweils anderer Ebene. Der Übergang zwischen den beiden Extremen wird gesichert durch alle Fortschritte der Erkenntnis, die zu erzielen eine unauflösliche Denkbewegung der Menschheit innerhalb eines Zeitraums von zweitausend Jahren ermöglicht hat; eine Bewegung, die vom Orient zum Okzident führt und sich vom einen zum anderen verlagert hat – vielleicht nur, um ihren Ursprung zu bekräftigen.

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Dieses Beispiel rechtfertigt den Ehrgeiz des Ethnographen, stets zu den Quellen zurückzugehen. Der Mensch schafft wahrhaft Großes nur zu Anfang; in welchem Bereich auch immer hat nur der erste Schritt uneingeschränkte Gültigkeit.

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Das Christentum, von neuem der Angst nachgebend, stellt die andere Welt wieder her, ihre Hoffnungen, ihre Drohungen und ihr jüngstes Gericht. Dem Islam bleibt nichts mehr zu tun übrig, als daran anzuknüpfen: die zeitliche und die geistige Welt sind vereint. Die soziale Ordnung schmückt sich mit dem Prestige der übernatürlichen Ordnung, die Politik wird zur Theologie. Letzlich hat man Geister und Gespenster, denen der Aberglaube ja kein rechtes Leben einzuhauchen vermochte, durch Herren ersetzt, die bereits allzu real waren und denen man überdies noch gestattet, ein Jenseits zu monopolisieren, das sein Gewicht dem doch schon erdrückenden des Diesseits hinzufügt.

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Wenn der Buddhismus, wie der Islam, versucht, der Maßlosigkeit der primitiven Kulte Herr zu werden, so dank der einigenden Befriedung, die dem Versprechen der Rückkehr in den mütterlichen Schoß innewohnt; auf diesem Umweg reintegriert er die Erotik, nachdem er sie von Angst und Raserei befreit hat. Der Islam dagegen entwickelt sich in eine männliche Richtung. Indem er die Frauen einschließt, versperrt er den Zugang zum mütterlichen Schoß: aus der Welt der Frauen hat der Mann eine verschlossene Welt gemacht. Gewiß hofft auch er, auf diese Weise zur Ruhe zu kommen; aber er versichert sich ihrer durch Ausschlüsse: dem der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und dem der Ungläubigen aus der geistigen Gemeinschaft; während der Buddhismus diese Ruhe eher als Verschmelzung begreift: mit der Frau, mit der Menschheit, in einer geschlechtslosen Darstellung der Göttlichkeit.

Es läßt sich kein ausgeprägterer Gegensatz denken als den zwischen dem Weisen und dem Propheten. Keiner von beiden ist ein Gott – dies ist ihr einziges gemeinsames Merkmal. In jeder anderen Hinsicht stehen sie einander entgegen: der eine ist keusch, der andere potent bei seinen vier Frauen; der eine androgyn, der andere bärtig; der eine pazifistisch, der andere kriegerisch; der eine ein Vorbild, der andere ein Messias. Aber es trennen sie auch zwölfhundert Jahre; und es ist ein weiteres Unglück des westlichen Bewußtseins, daß das später entstandene Christentum, das ihre Synthese hätten vollziehen können, „vor dem Buchstaben“ – also zu früh – in Erscheinung getreten ist, nicht als nachträgliche Versöhnung zweier Extreme, sondern als Übergang vom einen zum anderen: als der mittlere Terminus einer Reihe, die aufgrund ihrer inneren Logik, ihrer Geographie und ihrer Geschichte dazu bestimmt war, sich künftig in die Richtung des Islam zu entwickeln; denn dieser letztere – in diesem Punkt tragen die Mohammedaner den Sieg davon – stellt die entwickeltste Form des religiösen Denkens dar, ohne deshalb die beste zu sein; und ich möchte sogar behaupten, daß sie aus diesem Grunde die beunruhigendste von allen dreien ist.

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Heute betrachte ich Indien über den Islam hinweg; aber das Indien von Buddha, vor Mohammed, der sich für mich, der ich Europäer bin und weil ich Europäer bin, zwischen unsere Reflexion und die Lehren stellt, die dieser am nächsten stehen, wie der Spielverderber, der verhindert hat, daß sich der Orient und der Okzident, die prädestiniert waren, einander die Hände zu reichen, zum Reigen zusammenfinden. (…)

Möge der Westen nach den Quellen seiner Zerrissenheit forschen: indem sich der Islam zwischen den Buddhismus und das Christentum schob, hat er uns islamisiert, nämlich als der Westen sich von den Kreuzzügen verleiten ließ, sich dem Islam entgegenzustellen und damit ihm ähnlich zu werden, statt sich, als hätte der Buddhismus nie existiert, zu jener langsamen Osmose mit ihm bereitzufinden, die uns noch mehr christianisiert hätte, und zwar in einem umso christlicheren Sinn, als wir zu den Wurzeln des Christentums selbst vorgedrungen wären. Damals hat der Westen die Chance verspielt, Frau zu bleiben.

Claude Lévi-Strauss

(* 28. November 1908 - † 30. Oktober 2009)

Aus: Traurige Tropen (Tristes Tropiques), französisch zuerst 1955, übersetzt von Eva Moldenhauer, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1978, Kapitel 40 („Besuch im Kyong“), Seite 405, 409f, 405, 405, 404f, 405f (der kyong ist ein buddhistischer Tempel)

Foto: Farbspektrum des kanadischen Zuckerahorns


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