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Sonntag, 28. Februar 2010
Mely Kiyak über das System "Hartz 4"
Mely Kiyak, Deutschlands feurigste, klügste und schönste Kolumnistin, hat dem Hartz-4-Regelsatz in ihrem neuesten Stück einen erstaunlichen Brief geschrieben. Erstaunlich deshalb, weil man daraus lernen kann, daß wir derzeit von zwei Wirtschaftsmathematiken beherrscht werden, die beide nicht funktionieren, weil sie in sich völlig widersprüchlich sind - um das mindeste zu sagen. Es gibt eine Wirtschaftsmathematik für die da oben, eine Wissenschaft für die Reichen, für die Stabilitätspakt-Apologeten und Euro-Verwalter: Das ist die "Ökonomie des Nordens", die beinahe jede Art von Konzessionen kennt. Und es gibt eine Wirtschaftsmathematik für die armen Leute: Das ist eine "Ökonomie des Südens" (auch die infame, kriminelle Finanzinnovation des"Mikrokredits" gehört in diesen Zusammenhang), die praktisch keinerlei Konzessionen kennt und jeder empirischen Beschreibung spottet (weshalb es einen wirtschaftsliberalen Schreihals auch kürzlich in die Spätantike verschlagen hat). Mely Kiyak ist diese Beschreibung dennoch gelungen, und wir dokumentieren ihre scharfsinnige Demonstration in jener Form, in der sie am Samstag in der "Berliner Zeitung" & der "Frankfurter Rundschau" erschien:
"Lieber Regelsatz!
von Mely Kiyak, freie Autorin in Berlin
Die Monatsfahrkarte für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Großraum Frankfurt am Main, für Menschen, die Sozialleistungen beziehen, kostet 51,60 Euro. In Berlin kostet das ermäßigte Monatsticket 33,50 Euro. In Hamburg beginnt der Preis ab 30 Euro, je nachdem wie weit man gelangen will. Bremen, 29,50 Euro. In München zahlt man 22,90 Euro im Innenbereich. Da in München City sicher keine ALG-II-Bezieher wohnen, müssen Sozialhilfeempfänger das Ticket für den Gesamtbereich für 38,60 Euro kaufen.
In Dortmund gab es einst ein Sozialticket für 15 Euro. Jetzt hat man den Preis angehoben auf 30 Euro. In Hannover ist es ganz kompliziert. Dort gibt es nur eine Vergünstigung für das Tagesticket, das 3,50 Euro kostet. Wer eine Einzelfahrt lösen will, zahlt den Normalpreis, 2,90 Euro. In Dresden gibt es zwar Ermäßigungen für Touristen, Senioren oder Polizisten, aber keine Ermäßigungen für Bezieher von Sozialleistungen. Auch Leverkusen, Lübeck oder Lüneburg verzichten auf Sozialtarife.
Wer wie ich herausfinden möchte, in welcher Kommune man für wie viel Geld sich bis wohin bewegen kann, braucht Geduld. Denn in jeder Stadt werden Voraussetzungen für Ermäßigungen unterschiedlich gehandhabt. Mal heißt es Sozialticket oder IsarCard oder Berlinpass, das man erst beantragen muss, um für ein ermäßigtes Monatsticket berechtigt zu sein. Wer das Monatsticket hat, kann sich damit nur innerhalb des Netzes bewegen.
Eine Bahncard 25 kostet 57 Euro, die Bahncard 50 kostet 230 Euro. Ermäßigungen für Hartz-IV-Empfänger gibt es weder auf die Bahncard noch auf den Fahrpreis. Kinder von Hartz-IV-Empfängern können auch nur schwerlich eine Fahrschule besuchen. Außer sie verfügen über wohlhabende und spendable Gönner in der Verwandtschaft. Das Führerscheinmachen kostet in der Regel 1 800 Euro.
Was will ich damit sagen? Man kann nicht ernsthaft darüber diskutieren, ob der Regelsatz mit 359 Euro angemessen ist, wenn ständig über Geld, aber niemals über Preise gesprochen wird. Ein jeder im Land ist auf einmal Sozialpolitiker. Doch kaum einer weiß, was eine Zehnerkarte ins Freibad für Hartz-IV-Empfänger kostet (im Durchschnitt 22 Euro). Oder ein Arbeitsheft Mathematik 5. Klasse eines Schulbuchverlages (im Schnitt 9,95 Euro im Halbjahr), Ermäßigung nicht möglich.
Der Regelsatz bestimmt, was ein Bürger in Deutschland mindestens braucht, um leben zu können. Mehr noch, das soziokulturelle Existenzminimum soll zudem jedem Menschen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Erst wenn man das Existenzminimum menschenwürdig, realistisch neu berechnet, kann man sich angemessen über Leistungsträger und Löhne unterhalten. Ich finde außerdem, dass Mobilität, neben Bildung und Gesundheit eines der wichtigsten Themen bei Armut ist. Nicht nur geistige, sondern auch physische und physikalische Mobilität.
Der Regelsatz für Mobilität sieht monatlich 14,36 Euro vor. Entgegen allen Gesetzen einer Kolumne kommentiere ich weder diese Summe, noch frage ich nach dem Geisteszustand all jener Männer und Frauen, die den Regelsatz festgelegt haben und im wohligen Mantel der Anonymität eingekuschelt die letzten Wintersonnenstrahlen genießen.
Es grüßt und ermuntert zum selber Nachdenken und Rechnen,
Ihre Mely Kiyak"
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ja, das ist das Geheimnis der Statistik, Sozialkarten kosten im allgemeinen zwar mehr als 30 euro, gluecklicherweise weren sie aber nur von, sagen wir, weniger als 50% aller (armen) Menschen benoetigt, weil der Rest mit dem Rad faehrt oder eben schwarz oder zu Fuss unterwegs ist, also 15 euro fuer alle. Aehnlich verhaelt es sich ja mit dem Internet, niemand bekommt einen Anschluss fuer weniger als 25 euro, da aber die meisten Armen zuwenig Geld haben dafuer, sind es statistisch betrachtet nur 15% aller Armen mit Internetanschluss, also gibt's auch fur HartzIv-Opfer nur nur fuenf euro dafuer. So geht das eben weiter..
AntwortenLöschenEin weiteres Geheimnis: Wieso ermittelt man das sogenannte Existenzminimum gerade ausgehend von den untersten 20 Prozent der Einkommen ? Das ist völlig willkürlich.
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