Montag, 18. Januar 2010

Schwarmintelligenz und Führerfisch

"Ich schlage vor, daß wir uns der Frage des Dämonischen kunsthistorisch nähern, da bleibt man unbefangener. Betrachten wir zum Beispiel die Dämonen des Hieronymus Bosch. Dessen krakelige Monster sind vielgestaltig genug, aber sie haben alle etwas Gemeinsames: sie sind nicht komplett. Ihr Terror, das Entsetzen, das sie abstrahlen, ist das von unvollständigen, aufs Maschinell-Monomane reduzierten Krüppelwesen. Darauf, auf Deformation, läuft, so meine ich, auch Hitlers Dämonie letzten Endes hinaus (falls es sie gab).

Aber was fehlte ihm ? Was war sein entscheidentes (und in der Wirkung höllisches) Handicap ? Hier hilft ein Exempel aus der experimentellen Biologie.

Vor Jahren las ich von einem Versuch, den man mit Schwarmfischen ausrichtete, jenen winzigen glitzernden Wesen, die zu Hunderten und Tausenden gemeinsam in einem einzigen Augenblick die Richtung wechseln; Knoten in einem unsichtbaren Beziehungsnetz, das als Überorganismus zu leben und zu funktionieren scheint. Den Nervenstrang, der ihnen das ermöglicht, hat man isoliert: er läuft längsseits ihrer Flanken. Und man hat in der bekannt skrupellosen Neugier der Naturwissenschaft, einen dieser Kleinen zum Krüppel gemacht und das lebenswichtige Empathie-Organ entfernt. Der mißhandelte Fisch, äußerlich unversehrt, wurde dann dem Heimatschwarm zurückgegeben – und er wurde logischerweise zum Führerfisch.

Logischerweise. Denn da er keine Signale wahrnahm, die Tausendschaft seiner Gefährten aber einen solchen Zustand nicht kannte, nahmen sie seine einsamen, nicht mehr mit ihnen koordinierten Richtungssentschlüsse als Ergebnis der vertrauten kollektiven Abstimmung und damit als richtungsweisend an. Er allein, der geheime Krüppel, schien zu wissen, wo es langging, wo es aufwärts oder abwärts oder links oder rechts ging, während er in Wahrheit nur blindem, autistischem Drang folgte.

Führerdämonie als Folge von absoluter, zur Empathie unfähiger Ichbezogenheit – setzt man sich dieser Möglichkeit erst einmal aus, dann findet man sie öfters als einmal in der Geschichte der "großen" Führergestalten. So scheint alles darauf hinzudeuten, daß Alexander von Makedonien darunter litt. Bei Napoleon ist es schon belegbarer, etwa durch die Aufrufe an seine Soldaten und seine Nation bei der Eröffnung eines neuen blutigen Krieges: "Franzosen ! Der Zar hat mir sein Wort gebrochen !" Offensichtlich hielt er sein persönliches Betrogenwerden für einen hinreichenden Grund, Schlachtfelder mit Myriaden von Toten zu pflastern. Aber keiner war so entschieden verkrüppelt wie Hitler. "

Aus:

Carl Amery, Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts ?, Luchterhand Literaturverlag, München 1998, Seite 52-53

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